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Die Befreiung des Textes vom Papier



Da dreht sie sich munter im Wind, die kleine Windmühle: Kein politisch korrekt engagiertes Energiewende-Windrad, keine historisch liebäugelnde Holländermühle - ein munteres Windspiel, wie es Kinder am Strand in den Wind halten, blitzt aus dem schwarzen Buchstabengewirr hervor: ABC-windmill. Es ist eine kreisförmige Anordnung des Alphabets, ein nach innen zunehmend schwärzer werdendes Buchstabengefüge aus einer Abfolge von außen 84 A’s bis innen 4 Z’s, das Arne Rautenberg als visuelles Gedicht für die Ausstellungswand konzipiert hat. Dadurch, dass sich der Abstand der einzelnen Lettern nach innen hin verdichtet, strahlt es dynamisch nach außen aus und gerät optisch in eine schnelle Drehbewegung.

Seit über 10 Jahren sind Buchstaben und Worte das künstlerische Material von Arne Rautenberg. Nimmt die typografische Gestaltung normalerweise eine untergeordnete, dem besseren Verständnis des gesetzten Textes dienende Rolle ein, versucht sie Bedeutung und Inhalt der Buchstabenfolge zu verdeutlichen, wird also funktional eingesetzt, so verkehrt sich dies bei Rautenbergs visuellen Gedichten. Das, was uns normalerweise als klarer Ordnungsrahmen Orientierung schaffen soll, das Alphabet, wird bei ihm zum weitgehend autonomen Gestaltungselement. Dessen Funktion als unmittelbarer Bedeutungsträger gerät in den Hintergrund. Sprache und deren Bestandteile, Sätze, Wörter, Buchstaben, werden zum bildnerischen Material. Rautenberg setzt sie ein, wie ein Maler seine Farben auf einem abstrakten Bild. Zwar schwingt immer auch deren Bedeutung, ihr emotionaler oder inhaltlicher Gehalt mit, doch im Verhältnis zur Funktion als Medium der Realitätswiedergabe verselbständigen sie sich - Arne Rautenberg sagt, er wolle den Text vom Papier befreien und ihn als Ereignis im Raum erscheinen lassen. Die Wandfläche erst konstituiert seine Textbilder, macht den Lesevorgang zu einem räumlichen Erlebnis.

Rautenberg steht dabei in einer Tradition, die von den emblematischen Gedichten des Barock über die visuellen Experimente mit Lautgedichten Guillaume Apollinaires zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur konkreten Poesie z. B. bei Eugen Gomringer reicht. Sprache wurde dort immer wieder mit nichtsprachlichen Methoden, in der Schnittmenge zwischen Text und Bild, abstrakter Grafik und Typografie, also mit den Mitteln der bildenden Kunst auf ihre ästhetische Eigenwertigkeit hin untersucht. Nicht nur ausgewählte Worte, auch Einzelbuchstaben werden dabei von ihrer Bedeutungshaftigkeit befreit. Die künstlerische Untersuchung zielt auf die Sichtbarmachung der Dialektik von Zeichen und sie repräsentierender Formgebung. Diese kann so weit gesteigert werden, bis die Beziehung von Zeichen und Bezeichneten in einen Widerspruch geführt oder ganz aufgelöst wird.

Nun hat der Künstler das Alphabet in Form wandfüllender Windmühlenflügel angeordnet. Der übliche Textfluss von links nach rechts ist zugunsten einer für das Alphabet absurden Form aufgebrochen. Zugleich wird es in eine schwirrende, den gesamten Raum einbeziehende Bewegung versetzt. Wie ein Quirl sausen die Flügel durch den Buchstabensalat und bringen deren normative Ordnung mittels optisch erzeugter Rotation durcheinander. Die visuelle Dichtung macht humorvoll erfahrbar, was es bedeutet, dass bloße Striche zu Zeichen werden, auf denen unser gesamtes sinnhaft logisches Weltbild beruht und wie willkürlich deren übliche Setzung eigentlich ist. Rautenbergs Windmühle bringt frischen Wind in die Ordnung der Zeichen und Dinge.

Martin Henatsch