Lockruf der Abfallpoesie
- Gehört die Zettelwirtschaft der Straße in den Mülleimer oder ist sie als "Ready-wrote" sammelnswert und zu musealisieren? -
Durch Klassifizieren hat der Mensch gelernt, sich mit einer exakteren Einstellung in seiner Umwelt zu positionieren. So weiß er, vorausgesetzt er geht mit offenen Augen durch die Einkaufszentren, dass es zwei Sorten von Uhrengeschäften gibt: die, welche ihre Schaufensteruhren nach der Zeit stellen und die, welche ihre Schaufensteruhren nicht nach der Zeit stellen. In welche Sorte Geschäft würden Sie gehen? Ist die Uhrzeit Ihr Maß der Dinge oder ist sie es eben gerade nicht? Auch Leser lassen sich klassifizieren: Es gibt die Buchrückenknicker und die Buchrückennichtknicker. Ferner Alleslesenmüsser und Nichtalleslesenmüsser. Da ich manischer Leser bin, ordne ich mich erstgenannter Sorte zu. Und so kommt es, dass ich auf meinen Wegen den Blick nach Buchstaben umherschweifen lasse, zudem, eine Erblast meines Großvaters, eine leicht gebückte Haltung beim Gehen einnehme, um mich auf das Stück Boden vor meinen Füßen zu konzentrieren.
Was bringt diese augenscheinliche Bodenhaftung? Sicher, ein paar Münzen, die man als Kind flugs in Schleckramsch umzurechnen wusste (derlei Rechnung mache ich noch heute), einige Fossilien, Kleidungsstücke, Spielsachen, vielleicht auch einmal ein Schmuckstück aus dem Kaugummiautomaten. Betrachtet man es nüchtern, wird man für seine suchenden Absichten nicht sonderlich belohnt. Eines Tages sah ich jedoch ein kleines gelbes Kärtchen im Straßengraben. Da es aus dem verregneten Tag so hübsch herausleuchtete und einen fein geriffelten Schnittrand aufwies, hob ich es auf und drehte es um. GLÜCK stand drauf. Das kann kein Pech bedeuten, dachte ich, und steckte das Kärtchen in die Tasche meines Regenmantels. Doch ich wollte mehr Glück. Seit diesem Tag war ich infiziert von Found Poetry. Der nächste Fund lag einige Monate später zerrissen im Gebüsch einer Verkehrsinsel. Ich sammelte die Schnipsel ein. Wer ein Papier zerreißt, will dessen Information nicht mehr. Und der will schon gar nicht, dass andere sie bekommen. Kurz: der hat ein Geheimnis. Welches? Die zusammengesetzte Karte zeigte nicht mehr als die Mitteilung eines Sanitärunternehmens, doch diese hatte es in sich. Sehr kleingedruckt stand zuoberst: Abruf-Aushilfe für Abflüsse reinigen u.ä.. - und darunter stand, von einem Trauerrand umgeben: Abflußreinigung mit kleiner/ MOTORSPIRALE für 46,- DM/ Std./ * Härtere Fälle werden jedoch teurer! * Noch härtere Fälle?
Ich wies allerlei Freunde zum Ausspähen an und so wuchs meine Sammlung. Natürlich läßt sie sich selbst auch klassifizieren. Die wesentlichste Unterscheidung scheint mir diese: Es gibt Fundstücke, die einen poetischen Mehrwert aufweisen, und welche, die es nicht tun. Einen poetischen Mehrwert weisen die Textfunde auf, die eine ästhetische Wirkung auslösen, ein überraschendes Moment beinhalten und die Phantasie beflügeln; eben jene Zettel, die neu mit Bedeutung beladen werden können, weil ihnen die ursprüngliche Intension durch Ent-Kontextualisierung abhanden gekommen ist. Ein dreckiges Stück Pappe mit der Aufschrift EXTASE – was bedeutet das? Eine sich selbst nicht schonende Form der Befreiung?
In einem fremden Treppenhaus montierte ich folgenden schmalen Zettel ab: Wo ist/ eigentlich/ der Kaktus/ von der/ Fensterbank/ im 2. Stock/ geblieben?! – Ja wo nur? Vermutlich hatte er einfach die Schnauze voll von seinem langweiligen Leben auf der Fensterbank, sitzt in Miami am Pool und läßt sich von ein paar hübschen Halbsukkulenten den stachligen Bart kraulen. Und er wollte mir einen Impuls geben, mich zum Schreiben einer Kindergeschichte animieren, ist es nicht so? Bisweilen sind die Umstände der Entdeckung selbst der poetische Mehrwert. Im Herbst fand ich im Park eine kleine Karteikarte, auf der handgeschrieben die Worte Quelle und Ursprung standen, auf der Rückseite stand das englische Pendant source. Als ich darüber nachzudenken begann, was diese Karte bedeutet, sah ich, ein Stück weiter, schon die nächste: estimate. Und drei Schritte voran lag schon wieder eine; inmitten der abgeworfenen Blätter eines Kastanienbaumes sammelte ich schließlich 23 Karteikarten mit Vokabeln, die ich auf dem Weg nach Hause auswendig lernte. Nun weiß ich, dass increase Zunahme und decrease Abnahme bedeutet. Die Quelle, aus der sich dieses Wissen speiste, war die der ersten Karte. Aber wer schmeißt unter einem Kastanienbaum ein Bündel Karteikarten in die Luft? Jemand der die Prüfung erfolgreich absolviert hat? Oder jemand, dem danach war, einfach alles hinzuschmeißen?
Das Gros der gefundenen Zettel versteht sich allerdings als Vehikel eines unbremsbaren Mitteilungsdranges. Oft sucht der Mensch sich selbst an etwas zu erinnern. Einkaufszettel sind häufige Funde; sie sind nur dann sammelnswert, wenn sie absonderliche Zusammenstellungen aufweisen (Kissen/ Gummischuhe/ Zierkohl/ Haarwaschmittel/ Ofenschwärze). Spickzettel (Augen sind nach unten gerichtet wegen der starken Krümmung des Embryos) oder herausgerissene Tagebuchseiten (Entweder ich mache den Führerschein. Oder ich fahre weiter mit dem Bus.) zählen ebenso zu dieser Kategorie. Die meisten Fundtexte richten sich aber an Dritte. Hier schlägt die Stunde der Verlierer und Pubertierenden. Verlorene oder weggeschmissene Briefe bilden den Hauptbestandteil dieser Abteilung (Na Sister? Whats up? Ja ich komme mit zurück natürlich was für eine Frage! Ich winde es auch supi das wir uns nur 1 einigez mal gestritten haben geil ne Sister?????). Auch Schmähzettel sind beliebt (Zu ihrem Körper bleibt zu sagen, dass sie schlanke Füße hat). Wahnwitzig ist die in die linke obere Ecke eines Din-A 4-Zettels gequetschte Notiz: ich libe dich libs mich auch ja (dahinter ein Kästchen gemalt) oder nein (dahinter ein weiteres Kästchen gemalt). Keines der beiden war angekreuzt. Öffentliche Aushänge, also Suchzettel, sind bekannt: Am Samstag, den 01. April 2000 lief ein blauer Wellensittich quer über die Lornsenstraße. Wer vermisst ihn? Drohzettel bereiten dem Finder besondere Wonnen: Liebe Mitbewohner sollte öfters Nachts um 2 Uhr noch einmal so ein Lärm sein, hau ich euch die Fresse blau! Selten findet sich ein handgeschriebenes Gedicht. Im vorliegenden, dem eines Mannes, der von Frau samt Kindern verlassen wurde (so steht es im Gedicht), ist vor allem die Einleitung erwähnenswert: Dies ist ein Gedicht für jemanden der sehr geliebt wird, von einer Person, die ihr sehr weh tat und das so sehr bereut, das man es in Worten nicht ausdrücken kann. Wie zum Beweis scheitert der folgende Versuch eines Gedichts dann auch prompt (Ohne Euch ist mein Leben wie ein leerer Raum, in dem nichts drinnen steht.). Da ist es mir lieber, selbst Versatzstücke aufgelesener Zettel in meine Gedichte zu transferieren. Worte wie Eisenkern/ Kreuzmeißel / Kühlschmierung, entdeckt auf einem Lehrlingsspicker, laden buchstäblich dazu ein.
Weitere herausragende Sammlerstücke sind das in Sütterlin-Schrift abgefasste Pamphlet des Handymasten-Hassers und der Kontaktversuch des Autoverleihers Oliver (Nur an Studentinnen! Kostenlos! Keine Benzinkosten! Voll-Kasko versichert!). Beachtlich ist auch der handgeschriebene Frustrations-Bescheid, der eines Morgens an allen 50 Autos unserer Straße hinter dem Scheibenwischer klemmte: 42 Jahre Arbeit ohne Lohn. Ich, Vincent Kaim, beweise jedem Lottospieler, dass es noch keinen einzigen Sechser gegeben hat.
Wenn die Textfundstücke der Straße nicht belanglos sind, sind sie meist Ausdruck der Glücklosen und Unreifen. Und dennoch, neben soziologischen lassen sich auch poetische Studien an ihnen betreiben. Die Bildende Kunst hat der Literatur immer noch die von Marcel Duchamp initiierte Finte des "Ready-mades" voraus. Warum nicht auch mal einen passablen Mülltext der Straße zum "Ready-wrote" aufwerten und in den poetischen Kunstraum transferieren?
Die Poesie hat in den letzten Jahrhunderten ohnehin einen dicken Bauch bekommen und sich viele Spielarten im Umgang mit Sprache erlaubt: von komplizierten Letter-, Reim- und Verskonstruktionen, über die visuellen und akustischen poetischen Erfindungen, bis zum Rätsel, den Täuschungen. Wie Spione oder Zeugen des (scheinbar) Realen könnten sich "Ready-wrotes" dem poetischen Textgewimmel beigesellen. Es ist eben auch die Konzeption ("Die Poesie liegt auf der Straße") und die Entdeckung (jeden Tag!), die ein Kunstwerk ausmachen kann; Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit sind nicht seine einzigen Koordinaten. Der Reiz der gefundenen Texte liegt darin, dass sie für die Schaufel des Straßenkehrers gedacht sind und nicht für Buchseiten oder Museumsvitrinen. Dennoch kann in ihnen ein anregender Bedeutungskeim stecken. Kurt Schwitters schrieb 1935: "Der Abfall der Welt dient mir zur Kunst." Hat man dem Textabfall heute, fast unvorstellbare 80 Jahre nach Schwitters´ Ausspruch, nicht auch das Recht auf künstlerische Autonomie zuzugestehen?
(In: Neue Zürcher Zeitung, Nr.66 vom 19. März 2004.