»Die Poesie ist die Poesie. Und alles andere ist alles andere.«
Jan Rhein: Lieber Arne, du wolltest dieses Interview per Mail führen, wieso ziehst du das vor?
Arne Rautenberg: Manchmal brauche ich eine Minute, bis mir das Eigentliche einfällt, was ich sagen möchte.
Rhein: Vielleicht kannst du ja dazuschreiben, wenn du lachst oder so, dann wirkt es etwas mündlicher … Die Herausgeber fragen nach einem Foto, das die Interviewsituation dokumentieren soll. Das fällt in unserem Fall wohl flach, aber es bringt mich zu der Frage, welche Rolle Autorenfotos für dich spielen.
Rautenberg: Man gibt über ein Autorenfoto schon auch ein Image von sich preis: Bin ich der Lachende, der einen Amateur-Schnappschuss mit irgendwelchem Gestrubbel im Hintergrund für okay hält? Oder der sorgsame Studiotyp, der ernst und bedeutsam schaut? Sehe ich mich so? Betrachter und Betrachterinnen können sich, ohne eine Zeile gelesen zu haben, schon ein erstes Bild von der Selbsteinschätzung einer Autorin oder eines Autors machen.
Rhein: Deine Autorenfotos sind in der Hinsicht ja interessant: Nur ganz wenige sind eher neutral, die anderen inszenieren Schriftstellertypen und -szenen, erzählen selbst Geschichten. Man könnte vermuten, dass sie auch ironisch gemeint sind, aber ganz sicher kann man nicht sein …
Rautenberg: Auf einigen Fotos bin ich eher klassisch in Szene gesetzt, auf anderen pose ich ein bisschen. Das liegt daran, dass Dichter verhinderte Rockstars sind. Und irgendwie macht es auch Spaß, sich Fotos anzugucken, die ein bisserl was hermachen. Ich bin ja mit einer Fotografin verheiratet, das macht Autorenfotos um einiges leichter. (lacht)
Rhein: In einem Essay, den du über Richard Brautigan geschrieben hast, bin ich auf einen interessanten Abschnitt gestoßen, in dem du erklärst, wie Brautigans Gedichte dich geprägt haben: »Sie haben meiner Wahrnehmung einen entscheidenden Dreh gegeben: Guck genau hin. Und halte dich zurück mit vorschnellem Werten. Bis heute habe ich Mühe zu sagen, was richtig und was falsch ist. Weil sich das Falsche im poetischen Sinne oft richtiger anfühlt. Falsch und richtig sind einfach keine Kategorien mehr. Es geht um etwas Größeres.« Später im Text schreibst du, dass die Gedichte Brautigans etwas ihre Faszination verloren haben, dir nicht mehr komplex, nicht mehr dunkel genug waren. Aber würdest du sagen, dass diese Wahrnehmungslehre aus Jugendzeiten noch heute dein Schreiben prägt? Und was meint hier ›richtig‹ und ›falsch‹?
Rautenberg: Die Poesie ist die Poesie. Und alles andere ist alles andere. In der Realität mögen ›richtig‹ und ›falsch‹ wichtige Kategorien sein. In der Kunstwelt ist das anders: Hier gelten andere Regeln, hier wird das Denken durcheinandergewirbelt, Risiko gefahren, ein gedankliches Abenteuer gewagt. Scheitern und Danebenliegen immer inklusive. Da schüttelt man auch mal hohle Nüsse vom Baum. Doch manchmal hat man ganz überraschend auch mal ein Gold-Nugget in der Hand!
Rhein: Mir fällt auch auf, dass du in dem Essay das Wort ›poetisch‹ mehrfach und ganz selbstverständlich, quasi en passant verwendest. Was meint denn ›poetisch‹ für dich (wenn die Frage nicht zu groß ist)?
Rautenberg: Die Poesie schert sich nicht um ›richtig‹ und ›falsch‹, sie ist eine im Unterbewusstsein andockende, spirituelle Leerstellen in uns ausgleichende, übernatürliche Urgewalt. Natürlich hat man ein ästhetisches Besteck, mit dem man versucht, ihr irgendwie näherzukommen, und kann für sich selbst statuieren, was da der bessere und schlechtere Weg ist. Meiner ist: hinaus ins Offene: alles kommen lassen, zulassen, spielen, sich entgrenzen. »Es fließen und laufen zu lassen ist genau meine Methode.«
Rhein: Soweit ich weiß, gestaltet sich dein Tagesablauf recht regelmäßig, während die Abende und Nächte,in denen du schreibst, gewissermaßen ›entgrenzt‹ sind. Ich muss da an den belgischen Autor Jean-Philippe Toussaint denken, der sagt, zum Schreiben brauche es »Dringlichkeit und Geduld« (›urgence‹ und ›patience‹). Kannst du mit diesen Kategorien was anfangen?
Rautenberg: Das ist super gesagt. Dringlichkeit im Schaffen, das kenne ich. Da ist dieser Druck, das innere Sendungsbewusstsein. Das kann man auch nicht lernen. Entweder man hat es, oder man hat es nicht. Da hilft dir auch keine Kunstschule, kein Literaturinstitut. Wenn du es hast, kannst du nicht anders, als dich ausdrücken zu müssen. Das ist wirklich eine Dringlichkeit. Die Geduld braucht man dann im Wirken. Wenn du anfängst Kunst zu machen, zu schreiben, wartet niemand auf dich. Bei mir hat es zehn Jahre gedauert, bis ich eine Handvoll Leute beisammen hatte, die an mich geglaubt und mir publizistisch geholfen haben. Viele Jahre war ich ein sehr produktiver Autor ohne Buch. Doch trotz aller Dringlichkeit durchläuft man auch Phasen: Allein zwischen Ich-bin-der Größte und Ich-bin-kritikfähig ist eine Riesenhürde, bei der viele schon aufgeben. Man will ja für das, was man macht, wenn man sein Innerstes preisgibt, keinen auf den Deckel kriegen. Doch da muss man durch. Ich bin durch ein Meer aus Absagen gegangen. Und dachte mir: egal, weiter. Auch daran bin ich gewachsen.
Rhein: Aber du unterrichtest doch selbst auch am Leipziger Literaturinstitut und der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Was kann man da denn lernen?
Rautenberg: Man kann Gleichgesinnte treffen, sich mit ihnen verbünden oder von ihnen abgrenzen. Das schärft schon mal das eigene Profil. Ich denke, durch ein solches Studium hat man die Möglichkeit, intensiver arbeiten zu können und sich gegenseitig anzuspornen. Der Lennon- McCartney-Effekt. Außerdem hat man an Kunsthochschulen bzw. am Literaturinstitut Zugang zu professioneller Kritik, zu besonderen Werkstätten und Werkstoffen. Man kann sich richtig austoben.
Rhein: Du tobst dich beim Schreiben auch richtig aus, oder?
Rautenberg: Es fließen und laufen zu lassen ist genau meine Methode. Mich dabei zu berauschen, sowohl mit Alkoholika als auch mit Lektüre, gehört für mich dazu.
Rhein: Dazu passt wieder Toussaint, der von ›côté rigide‹ und ›côté fluide‹ spricht, also dem starren Gerüst, der Disziplin auf der einen Seite, dem Fließen, Entgrenzen auf der anderen Seite. Stimmt es also doch, dass Alkohol beim Schreiben hilft, oder bearbeitest du die Gedichte nochmal am nächsten Morgen mit klarem Kopf? Brauchst du auch das Rigide?
Rautenberg: Unbedingt. Alkohol hilft beim Ideenfluss, beim Entgrenzen. Für das Überarbeiten braucht man einen klaren Kopf.
Rhein: Da stellt sich vermutlich auch wieder die Frage nach richtig und falsch. Wann ist ein Gedicht fertig?
Rautenberg: Das ergibt sich von allein. Die Form kommt beim Schreiben, manchmal auch mit dem Inhalt. Das ist eine kleine Bewegung: Es gibt eine Exposition, einen wie auch immer ästhetisch gearteten Verlauf und einen Schlussdreh, oftmals ein Bild oder Wort. Da ich nachts immer für einen fertigen Text angreife, werden meine Gedichte meist nicht allzu lang. (lacht) Es sind ja nicht nur inhaltliche Themen, die einen poetisch beschäftigen, es können ja auch formale sein. Ich habe mehrmals versucht, das kürzeste Gedicht deutscher Sprache zu schreiben.
Rhein: Würdest du ein Beispiel geben?
Rautenberg:
wi’nd
Das ist ein Einwortgedicht aus meinem neuen Gedichtband "betrunkene wälder".
Rhein: Manche deiner Gedichte erinnern auch an bestimmte OULIPO-Texte, die ja teils auf mathematischen Knobeleien basieren. Kann eine ›contrainte‹, also eine freiwillige Beschränkung, wie die Oulipisten sie sich auferlegt haben, z. B. der Verzicht auf einen bestimmten Buchstaben, auch stimulierend sein, bzw. arbeitest du mit solchen Methoden?
Rautenberg: Ich habe viele Formen erfunden, in die ich dann meine Gedichte gießen konnte. Generell finde ich es besser, neue, eigene Formen zu erfinden, also auch hier originell zu sein, als sich an andere Formen, die andere Dichterinnen und Dichter schon durchgeackert haben, auch noch ranzumachen. Natürlich habe ich in meinem Leseleben gut studiert, was in der Poesie schon gelaufen ist, und OULIPO ist da eine Referenz, genauso wie die Wiener Gruppe oder Dada. Lustigerweise ist meine Übersetzerin ins Französische, Michèle Métail, eine großartige Dichterin, Mitglied bei OULIPO. Ich bewundere sie.
Rhein: Liest du auch Prosa, bzw. prägt sie dich, oder vor allem Lyrik?
Rautenberg: Ich lese gern Prosa, von Richard Brautigan, Michel Houellebecq, Haruki Murakami und Karl Ove Knausgård habe ich fast alles gelesen. Derzeit lese ich alle Romane von Dag Solstad, die ich auf Deutsch kriegen kann. Mich interessieren auch die phantastischen Reiseberichte von Basho aus dem 17. Jahrhundert oder Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen. Allerdings finde ich zu Hause nicht recht die Ruhe zur Prosa. Da lese ich eher das Feuilleton und Gedichte. Momentan beschäftigen mich Ezra Pounds Cantos: 50 Jahre dran geschrieben, 50 Jahre dran übersetzt, ein Jahrhundertbuch. Ich lese es und verstehe nichts dabei. Und das ist Poesie, wie ich sie brauche!
Rhein: Klingt so, als könnte Literatur selbst auch ein Erlebnis sein, also etwas, das auch wieder das Schreiben befeuert. Gibt es von dir Gedichte über die Literatur?
Rautenberg: Ich habe mal einen bibliophilen Gedichtband veröffentlicht mit dem Titel dys ypsylyntryffyn, Untertitel: »Gedichte über Gedichte«. Klar, das Selbstreferenzielle kommt bei mir nie zu kurz.
Rhein: In dieser Corona-Zeit erleben wir ja alle jede Menge ›contraintes‹ im Alltag, man ist in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Hat der Verzicht auf Begegnungen, Reisen bei dir zu einem anderen Schreiben und anderen Gedichten geführt? Möglicherweise zu einer anderen Form der Kreativität?
Rautenberg: Nein, ich mache alles genauso wie vorher. Nur konzentrierter. 2019 etwa war ich gut 150 Tage unterwegs, Lesereisen, Workshops geben, Landschaften, Städte und Kunstausstellungen erkunden. Da habe ich mir gewünscht: Ich möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden und Gedichte schreiben. Und genau das habe ich 2020 gemacht – und es in gewisser Weise auch genossen. Nachdenklich wurde ich erst, als ich Ende 2020 für einen Jahresrückblick durch meine Handyfotos scrollte: Da sah ich, was ich 2020 fotografiert habe – und was ich 2019 fotografiert habe: Wo ich überall war, wem ich alles begegnet bin und was ich für zauberhafte Kunsterfahrungen machen durfte. Da wurde mir schon auch die aktuelle Erlebnisarmut bewusst.
Rhein: Aber zum Schreiben ist Erlebnisarmut gar nicht so schlecht, oder?
Rautenberg: Die Disziplin zum Schreiben lässt sich leichter aufbringen und man ist gewillter,die Erlebnisarmut durch aufregendeGedanken zu kompensieren.Allerdings könnte man auch andersherum argumentieren: Viel erleben und rezipieren, was einen anregt, ist ebenfalls förderlich für den kreativen Akt.
Rhein: Bei vielen Menschen scheint ja der erste Lockdown zu einer Art Lähmung und – wenn man es sich erlauben konnte – auch Entschleunigung geführt zu haben. Wie war das bei dir?
Rautenberg: Ich war im lyrischen Vollgas-Modus. Außerdem hatte ich Glück, dass ich drei Monate im Geburtshaus von Hermann Hesse leben durfte, ich hatte also schon auch einen bedeutungsschweren Tapetenwechsel. Am Ende des Jahres hatte ich zwei neue Gedichtbände geschrieben, die nun herausgekommen sind: "betrunkene wälder" mit düsteren, abgründigen Gedichten – und mein Kindergedichteband "fünfzehn kilo kolibri", der von Katrin Stangl illustriert wurde.
Rhein: Wie wird ein Text zum Kinder- oder Erwachsenengedicht? Manchmal scheint es nicht einfach zu sein, eine Trennlinie zu ziehen–du hast ja auch »Kindergedichte für Erwachsene« gemacht?
Rautenberg: Die Grenzen sind fließend und ich achte beim Schreiben nicht darauf. Das entscheide ich erst, wenn ein Text fertig ist. Kinder sehen offen und hell in die Zukunft, das finde ich super und möchte es nicht ausbremsen. Deswegen setze ich in meinen Kindergedichten aufs Lustig-Verdrehte, auf Überraschungen, viele Tiere und Reime. Meine schwarzen Gedanken und negativen Energien bringe ich in Gedichten für Erwachsene unter; hier bin ich bisweilen auch destruktiv, verstörend und steige in meine existentiellen Abgründe hinab.
Rhein: Ich denke, dass man vor dem Hintergrund einer so ungewöhnlichen Erfahrung wie dieser Krise Gegenwartslyrik – sowie allgemein deutungsoffenere Literatur – anders lesen kann. Manche deiner Sätze lassen sich vor dem aktuellen Hintergrund ganz konkret anders verstehen. Eine Zeile wie »der bann wich schmetterlingen« – das ist jetzt ein recht zufällig gewähltes Beispiel – lässt sich nun mit einer neuen, konkreten Bedeutung füllen. Vielleicht macht die Krise auch offener für manche großen, metaphysischen Fragen, vielleicht auch empfänglicher für Alltagsbeobachtungen. Würdest du da zustimmen?
Rautenberg: Absolut. Das Sich-Hinterfragen ist ja nachts beim Schreiben mein andauernder Job. Was ist da eigentlich um mich herum los, was sehe ich, was ist in mir, welche Energien ballen sich in meiner Persönlichkeit? Da klopft man sehr schnell an die Tür der Metaphysik. Fühlt sich angebunden an etwas Größeres, also ganz klein und demütig. Eine wahnsinnig schöne, heilsame Erfahrung. Und die Poesie, so sie offen und catchy genug ist, lässt sich immer wieder, zu neuen Zeiten, in neuen Räumen neu lesen. Das ist ja der Witz daran: Gedichte sind Neuigkeiten, die neu bleiben. Und mir ist bewusst geworden, dass ich mich als Teil eines großen Poesie-Gesprächs empfinde: quer durch alle Zeiten und alle Räume. Das macht mich leicht, das macht mich frei.
Rhein: Interessiert es dich überhaupt, wie die Gedichte gelesen werden, wenn sie einmal in der Welt sind?
Rautenberg: In jedem Fall. Es ist ja so: Du gibst etwas von dir und entlässt es in die Welt. Ab diesem Zeitpunkt ist das veröffentlichte Gedicht autonom. Es kann gelesen werden, wie die Leserinnen und Leser das wollen. Es ist nicht mehr so wichtig, was ich dabei gedacht habe oder damit sagen wollte. Es gibt diese Grundregel der Interpretation: Interpretierbar ist das, was in einem Text angelegt ist, ob vom Autor oder der Autorin intendiert oder nicht, spielt keine Rolle. Texte sollten offen sein und offen bleiben, damit sie immer wieder neu und anders gelesen werden können.
Rhein: Natürlich gilt die Offenheit für die Rezeptionsseite, aber wie sieht es mit der Produktionsseite aus? Sind Gedichte für dich eine offene oder geschlossene Form? Denkst du stark in Zusammenhängen, wie z. B. der Konzeption eines zukünftigen Gedichtbands?
Rautenberg: Die Offenheit gilt für mich beim Machen genauso. Ich will mich doch noch von mir selbst überraschen lassen können. Wie langweilig sähe der Gegengedanke aus? In den letzten zehn Jahren haben sich in meinen Gedichtbänden mehr und mehr die inhaltlichen Zusammenhänge meiner poetischen Arbeit gezeigt: Kleine poetische Wunder gegen die ohnmächtig empfundene Verzwergung unserer Existenz setzen – und dabei die großen natürlichen Wunder und Erfahrungsräume mit einbeziehen, wohlwissend, in welcher Gefahr sie sich gerade befinden.
Rhein: Haben Literatur und Kultur in der Corona-Zeit den Platz, den sie verdienen?
Rautenberg: Die Wertigkeit von Kultur war völlig unterrepräsentiert. Wie kann man unsere KULTUR so marginalisieren, habe ich mich da gefragt. Sie ist unser Fingerprint, unser Wesen, das sollte man bitte niemals vergessen und auf keinen Fall irgendwie beschneiden.
Rhein: Für mich war es auch verstörend, wie wenig die Kulturbranche und ihre Probleme in dieser Zeit thematisiert wurden und werden. Man hatte den Eindruck, dass in der öffentlichen Debatte außerhalb der Feuilletons Gartencenter mehr vorkamen als Museen, Theater, Kinos und Literatur zusammen.
Rautenberg: Das habe ich auch so empfunden.
Rhein: Andererseits auch die Frage, warum Kulturakteure wenig im öffentlichen, politischen Diskurs auftauchen, sich entweder wenig zu Wort melden oder wenig gehört werden.
Rautenberg: Ich halte nichts davon, dass sich die Kunst zu politisieren habe, um eine Rolle zu spielen. Wenn man eine der einschlägigen Kultur-Sendungen schaut, sei es ttt oder aspekte, kommen dort fast ausschließlich noch politische Beiträge. Was soll das? Wieso laufen die nicht in den politischen Reportagesendungen wie dem auslandsjournal? Kunst muss frei bleiben. Ich bin wirklich ein Vertreter der klassischen Wasserglaslesung und des Elfenbeinturms.
Rhein: Marlene Streeruwitz hat kürzlich anlässlich der Verleihung des Preises der Literaturhäuser vorgeschlagen, dass Künstler*innen die Politiker bezüglich ihrer Kommunikation in der Pandemie beraten sollten.
Rautenberg: Die Politik soll die Kunst einfach nur in Ruhe lassen und unterstützen, das ist meine Meinung. Tut sie das nicht oder nicht genug, finde ich es gut, diesbezüglich auf den Busch zu klopfen.
Rhein: Du hattest 2020 recht schnell virtuelle Workshop-Aufträge und wurdest für digitale Lesungen angefragt. Was hat dich an diesen Online-Auftritten überrascht?
Rautenberg: Zum einen, dass sie erstaunlich gut funktionieren. Zum Beispiel habe ich die erste Digital-Lesung der Staatsbibliothek Berlin bestritten und mich im Anschluss sehr nett mit Zuhörerinnen und Zuhörern unterhalten. Aber verrückt ist dann auch der Moment, wenn man seinen Laptop zusammenklappt, aus der Zimmertür tritt und gar nicht weiß, wohin mit seinem Adrenalin.
Rhein: Glaubst du, dass sich diese neu praktizierten Formen der digitalen Literaturvermittlung nach Corona erhalten oder andere Formate ergänzen werden? Erschließt sich hier nicht auch ein neues Geschäftsfeld für Autorinnen und Autoren? Überspitzt gedacht: Du könntest ja jetzt ganz viele Lyrik-Workshops anbieten, für alle Deutschklassen in China oder so.
Rautenberg: Ich denke, dass das ortsunabhängige Arbeiten ein Riesenplus ist. Gerade auch unter Umweltaspekten absolut zukunftsweisend. Allerdings lässt sich die reale Live-Erfahrung durch nichts ersetzen, da gehört ja so viel mehr dazu als zuzuhören und den Ausschnitt der Lesenden am Flachbildschirm zu beobachten – die ganze Atmosphäre, die Gerüche, Nachbarn, dass man selbst entscheiden kann, wo man hinsehen, also was man sehen möchte, die Stimmung, die sich im Raum erspüren lässt, das ganze Leibliche, das den Zauber einer Lese-, ja einer Live-Veranstaltung mit ausmacht, das werden wir sicher wieder brauchen.
Rhein: Und ästhetisch? Deine Literatur sprengt ja durchaus die Grenzen des Buchs. Sind Formen der digitalen Literaturvermittlung auch ästhetisch interessant?
Rautenberg: Ich finde es toll, dass mehr damit möglich ist, als ich anfangs dachte. Doch meine Arbeit wird es nicht verändern. Ich sitze nachts da und schreibe Gedichte. Und dann reise ich rum und lese sie vor. Das ist und bleibt der Kern meiner Arbeit.
Rhein: Aber die Entkopplung der Literatur vom gedruckten Buch ist ja schon ein Teil deiner Arbeit. Du spielst ja mit der Visualität und der Materialität der Literatur – da ist Mallarmé eine weitere Referenz für dich. Ob der wohl gezoomt hätte?
Rautenberg: Für mich steht Mallarmé für das Unbedingte, für Vollblut-Poesie, das Neue. Ich hätte ihn mir zwei Dekaden nach seinem Tod 1898 eigentlich gut in einem Automobil vorstellen können. Ich denke, fortschrittsfeindlich war er nicht – und kommunikativ war er obendrein. Also ja: Mallarmé hätte gezoomt.
Rhein: Du sprengst die Grenzen des Buchs nicht nur durch visuelle Poesie, sondern auch durch ungewöhnliche Formen der Veröffentlichung. Etwa, wenn du Hauswände bespielst oder deine Gedichte zum Mitnehmen auf dem Boden einer Galerie liegen. Bietet da nicht Zoom eine ganz neue Form der Literaturpräsentation, der Veröffentlichung, an die man noch gar nicht gedacht hat?
Rautenberg: Ich denke, es gibt inzwischen aufregendere Ideen, als Poesie via Zoom zu vermitteln. Ich denke an den Konzept-Künstler und Autor Kenneth Goldsmith, der 2013 versucht hat, das Internet auszudrucken. Das ist mal ne Ansage!
Das Interview führte Jan Rhein für die "Kritische Ausgabe 2021"
Arne Rautenberg - 13. Februar 2025, 02:46
URL: https://arnerautenberg.de/person/interviews/interview_kritische_ausgabe_2021
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