Meine Dichtung ist mein Geist
Fragen zu 20 Jahre Liliencron-Poetikdozentur1. Sie haben sich schon häufig emphatisch zu Ihrer Heimatstadt Kiel bekannt. Was macht Kiel in Ihren Augen aus?
Kiel ist Deutschlands größte Stadt am Meer. Und ich bin ein Meermensch. Wer etwas mit dem Meer anfangen kann, der ist in dieser Stadt richtig. Außerdem muss der Mensch etwa 17.000 Mal am Tag atmen. Da kann es nicht schaden, wenn die Luft gut ist.
2. Stimmen Sie Theodor Fontane zu, der in den Bürgern Kiels »Durchschnittspeople von der Hamburger Sorte« erkannte?
Das ist nicht so. Das Hanseatentum, wie man es etwa in Hamburg oder Lübeck in den Bildungsschichten noch vorzufinden meint, gibt es in Kiel so nicht. Und die Durchschnittspeople, Himmel, die gibt es überall und in vielen Nuancen des Lebens ist man selber einer von ihnen.
3. Wie steht es um das literarische Leben in der Landeshauptstadt?
Das literarische Leben der Stadt spielt sich in unterschiedlichen Szenen ab. Da ist natürlich Feridun Zaimoglu. Da ist Christopher Ecker, da ist Ole Petras, da ist Jens Rassmus, die für mich und mein Schreiben da sind. Für mich sind wir vier wie eine Bande. Da ist eine gesunde Slam-Szene – und da ist das Literaturhaus Schleswig-Holstein, das uns im Auge hat und entsprechend protegiert. Nicht zu vergessen die Christian-Albrechts-Universität und die Muthesius-Kunsthochschule, die ebenfalls literarische Veranstaltungen anbieten, bzw. mit kostbaren Gedanken begleiten.
4. Welche Bedeutung hat die Liliencron-Dozentur Ihrer Meinung nach für den Lyrik-Standort Kiel?
Es ist unheimlich wichtig, dass die Lyrik mit der Liliencron-Dozentur einen Fuß in der Stadt hat, der so groß ist, dass er weit über die Stadt hinaus ragt. Denn was hängt an diesem Fuß alles mit dran? Es ist das gewaltige Wesen der Poesie.
5. Mit Ihnen wurde 2013 das erste Mal ein Lyriker ausgezeichnet, der in Kiel lebt und arbeitet. Kam die Liliencron-Dozentur für Sie völlig überraschend oder war sie längst überfällig?
Sie kam völlig überraschend. Mein Plan ist es, einfach immer weiter Gedichte zu schreiben, aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Der Rest ergibt sich. Wenn man dafür gestreichelt wird, ist das natürlich schön. Denn mehr Aufmerksamkeit für meine Arbeit bedeutet, dass meine Gedichte mehr gelesen werden. Und ich freue mich, wenn Menschen sich für Gedichte, auch für meine Gedichte interessieren.
6. Kann man, sollte man Lyrik erklären?
Ist nicht nötig. Kann aber doch nötig für die sein, denen die Erklärungen etwas geben. Meine Erfahrung ist: Je phantasie- und lustvoller Leserinnen und Leser an Gedichte herangehen – umso mehr können die Gedichte ihnen zurückgeben. Sich da von Paradebeispielen, etwa der Rubrik „Frankfurter Anthologie“ in der FAZ befeuern zu lassen, das ist doch wunderbar.
7. Wann haben Sie entschieden, als freier Schriftsteller Ihren Lebensunterhalt zu bestreiten?
Unmittelbar nach dem Ende des Studiums, mit Beginn des neuen Jahrtausends. Ich wollte es absolut, hatte keinen Plan B, mich dafür in den Jahren davor schon mit Lesungen und Zeitungsarbeit in Stellung gebracht. Und hatte ab dem Jahr 2000 einen guten Roman-Vertrag mit Hoffmann und Campe in der Tasche, der mir für zwei Jahre pro Jahr 12.500 DM bescherte.
8. Fühlen Sie sich wohl im Literaturbetrieb?
Ich habe immer die Nähe zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern gesucht, deren Arbeit und Persönlichkeit ich schätze. Außerdem bin ich neidfrei. Ich freue mich für alle Dichterinnen und Dichter, die ich gut finde, wenn sie Preise bekommen. Und obwohl ich natürlich auch durch ein Meer aus Absagen gegangen bin – drehte sich der Wind irgendwann. Heute ist es so: Ich kümmere mich um nichts mehr – und alles fliegt mir zu. Ich mag das.
9. Der Freiherr Detlev von Liliencron war sein Leben lang eigentlich immer pleite. Liegt der ökonomische Druck schwer auf der Feder?
Im Gegensatz zu meinen Romankollegen – vier Jahre Roman schreiben, okayen Vorschuss kassieren, nach der Veröffentlichung Lesungen anleiern – habe ich meine ökonomische Basis immer auf vielerlei Füße gestellt: Ich schrieb für verschiedene Zeitungen, machte Rezensionen für den Rundfunk, machte Lesungen, gab Workshops, veröffentlichte hier und da und wenn mal eines der Beine wegbrach, ich etwa beim Rundfunk oder einer Zeitung gefeuert wurde, war ich nie ganz am Ende wie meine Romankollegen, die alles nur auf ein Pferd, eben den nächsten Roman gesetzt haben. Wenn den dann keiner mehr wollte, waren die oftmals fertig mit der Schriftstellerwelt.
10. Sie schreiben nicht nur Lyrik für Erwachsene, sondern veröffentlichen auch sehr erfolgreich Gedichte für Kinder, zuletzt den Band Rotkäppchen fliegt Rakete (Peter Hammer, 2017). Wie wirkt sich das Alter der Adressaten auf den Schreibprozess aus?
Kinder sind während der Lesung viel unmittelbarer. Ich lese vor allem vor den Klassenstufen 2.- 6. Klasse meine Kindergedichte vor. Es wird viel gelacht, sich lauthals gewundert. Ich liebe das. Und hinterher kommen dann so Fragen wie: Was muss ich machen, um auch ein Dichter zu werden? Während meines Schreibprozess spielt das allerdings keine Rolle. Ich lasse die Dinge einfach auf mich zukommen und schaue, was dabei rauskommt. Zwischen einem Kinder- und einem Horrorgedicht liegen manchmal nur Nuancen.
11. Sind gute Kindergedichte immer auch Gedichte für Leser jeden Alters?
Ich denke ja. Das Label Kindergedichte bedeutet ja bloß, dass diese Gedichte auch für Kinder geeignet sind. Ich kenne viele Erwachsene, die auch Spaß an Kindergedichten haben. Manchmal gibt es Verweise oder einen doppelten Boden, manchmal ist es okay, einfach mal wieder ganz naiv an die Dinge heran zu gehen. Dann ist man plötzlich in so einem Zen-haften Modus. Den gibt es hier im Rausch der Leistungsgesellschaft viel zu wenig, finde ich.
12. Andersherum gefragt: Nähern sich Kinder der Gattung Lyrik unvoreingenommener als Erwachsene?
In jedem Fall. Oftmals haben Kinder noch keine Ahnung von Gedichten. Wenn die dann aus meinen Schul-Lesungen herausgehen, weiß ich: 90% von ihnen werden vielleicht nie wieder zu einer Dichterlesung in ihrem Leben gehen. Aber wenn die dann da rausgehen und das Gefühl haben, da war eben einer, der hat seine Gedichte vorgelesen und wir haben Spaß gehabt, uns zusammen gewundert und gelacht, dann ist schon viel für das kommende wahrnehmen der Gattung Lyrik gewonnen.
13. Wann und wodurch geht die Unschuld im Umgang mit Gedichten verloren?
Durch die Denkfaulheit. Früher dachte ich immer: Das olle Interpretierenmüssen in der Schulzeit vergellt einem die Gedichte. Heute denke ich anders. Je besser man sich an Gedichte heranzudenken versteht, umso mehr kann man für sich herausziehen. Und das kann man lernen. Wenn in Schulen vermittelt werden könnte, dass man lustvoll an die Sache herangehen kann, weil es hinterher etwas für einen selber gibt und bedeutet kann, so wäre das großartig. Allerdings gibt es auch einen ganz anderen Zugang zu Gedichten, der nichts mit dem Interpretieren zu tun hat. Gedichte tasten sich an das Unsagbare heran. Und das kann man, wenn man sensibel dafür ist, auch einfach so erspüren. Doch die Sensibilität dafür muss geweckt werden. Gute Lehrkräfte können das.
14. Kann Lyrik das Leben verbessern?
In jedem Fall. Lyrik kann Empfindungen erwecken, bestätigen, verstärken. Poesie ist der weltweite und zeitübergreifende Code der Feinsinnigen. Sie ermöglicht, etwas von dem zu erkennen, was all die Abgestumpften nicht mehr wahrnehmen können. Poesie erschafft Fragen, schärft die Sinne für unsere Zukunft und ist daher unverzichtbar.
15. Stellt man die mit der Liliencron-Dozentur ausgezeichneten Werke und Autoren nebeneinander, erhält man eine große Bandbreite von Schreibweisen und Poetiken. Ihre Gedichtbände hingegen mischen alle möglichen Stile und Genres – man findet visuelle Poesie genauso wie Haiku oder Erzählgedichte. Wollen Sie sich nicht entscheiden?
Ich bin ein Meister im Zulassenkönnens. Was kommt, das kommt. Ich habe kein Programm, sondern gehe dahin, wo meine Ideen mich hinhaben wollen. Das ist dann auch für mich beim Schreiben spannend. Weil ich nicht weiß, was passiert. Nicht selten bin ich selbst über mich überrascht, von einem Ausdruck, der aus meiner Dunkelheit, meiner Tiefe kommt. Und es ist auch ein tröstlicher Gedanke, dass all die Gedichte, die ich in den letzten dreißig Jahren geschrieben habe, so etwas wie mein emanzipiertes Tagebuch sind. Alles was mir widerfahren ist, was mich ausmacht, steckt darin. Für jetzt – und für die Zeit, die nach mir kommt. Es bleibt etwas von mir, wenn ich nicht mehr bin. Und die, die etwas von mir haben wollen, können etwas über meine Zeit hinaus von mir bekommen. Meine Dichtung ist mein Geist.
16. Sie sind kürzlich als ordentliches Mitglied in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen worden. Ruft der Kanon?
Bisweilen schnuppere ich an den bunten Nebeln der Kanonisierung. Und ich muss zugeben: Sie riechen sehr gut.
17. Welcher der anderen Liliencron-Dozenten steht Ihrem Schreiben am nächsten?
Die Gedichte von Doris Runge (das Knappe), Dirk von Petersdorff (das Alltägliche), Ulrike Draesner (das frei Blitzende) begleiten mich schon sehr lange und ich ziehe großen Gewinn aus der Lektüre. Doch ich lasse mich auch nur zu gern auf die alljährlich kredenzten neuen Dozenten ein – und halte während des Vortrags meinen Notizblock auf dem Schoß.
18. Und Ihrem Herzen?
Meine Vorliebe gilt den künstlerisch aktiven Dichtern. Schreibt nicht Paul Klee die schönsten Titel zu seinen Bildern? Poetische Handstreiche, die mich inspirieren. Oder der Schotte Ian Hamilton Finlay, der so wunderbare Text/Bild-Objekte von edler Einfalt und stiller Größe schuf. Oder eben der frei spielende Kurt Schwitters.
19. Welchen Rat geben Sie jungen Lyrikerinnen und Lyrikern?
Verbinden sie sich mit der Moderne, sie sucht das Originelle. Bilden Sie Netzwerke mit Gleichgesinnten. Besuchen Sie Lesungen von anderen Lyrikerinnen und Lyrikern; danach haben Sie deren Stimme für die Restlebenszeit in ihrem Ohr und Sie werden deren Gedichte auch anders lesen. Lesen Sie sich Ihre Gedichte beim Schreiben laut vor.
20. Und zum Schluss: Bei Ihrer Poetikvorlesung stand ein gelbes Bierfass auf dem Katheder. Was hatte es damit auf sich?
Ich wollte eines meine beiden künstlerischen Grundprinzipien verdeutlichen. Das erste ist: Kleine Dinge groß machen. Das zweite ist: Dinge zusammen zu bringen, die nicht zusammen gehören, letztlich das Prinzip der Collage. Im Vergegenwärtigen des Reclam-Bierfasses wollte ich zwei mir wichtige Wirkmächte vereinen: zum einen das Bier, das für den Rausch steht, der mir beim Schreiben wichtig ist, denn Poesie zu erzeugen hat auch etwas mit Kontrollverlust zu tun – zum anderen die Farbe Reclamgelb, die für kanonisierte Literatur steht und mir den Weg weist. Da will ich hin.