Harald Hartung in der FAZ vom 26.11.2009
Rautenbergs Gedichte sind lyrische Mobiles, anmutige kleine Kunstmaschinen, die sich im Wind drehen. Es muss nicht der Atem großer Inspiration sein, der sie bewegt. manchmal genügt es, wenn der Autor die Lippen spitzt und pustet. ... Ein Talent von Morgensternscher Art, witzig und kauzig. Doch stehen ihm auch ernstere Töne zur Verfügung. Schön und anrührend ist seine "vogeluhr". Darin werden morgens die Singvögel wach; vom Gartenrotschwanz bis zum Star. Beim Haussperling heißt es: "ich denke mich und ich bin es nicht der mich denkt." So denkt der Lyriker. Und der Dichter im Leser denkt ihm gern nach.
Kai Sina in literaturkritik.de vom 27.09.2010
Blumenspiele
Das Verhältnis der modernen Literatur zur Natur ist ein problematisches, insbesondere im Bereich der Lyrik. Im 20. Jahrhundert erfuhr das Genre der Naturlyrik seine letzte Renaissance bei ‚Naturmagikern‘ wie Wilhelm Lehmann oder Oskar Loerke, die eine mythisch überhöhte Natur als Gegensatz zur modernen Welt der Entfremdung und Zerstörung entwarfen. Eine Hinwendung ins unverfängliche, weil unpolitische Terrain, die mit einer Abwendung von brisanten historischen Wirklichkeiten einher geht: Diesen Vorwurf des Eskapismus, der mittlerweile als ziemlich verkürzt nachgewiesen wurde, hat man in späteren Jahren vielfach erhoben. Die Natur im Gedicht findet sich dann in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht selten in Form einer politisch akzentuierten ,Ökolyrik’, die kaum noch romantische Mythisierung, sondern eher die Angst vor einer drohenden Umweltkatastrophe kennzeichnet.
Seit einiger Zeit schon lassen sich Tendenzen zurück zur Natur feststellen, die nicht – oder zumindest nicht mehr oder nicht mehr ausdrücklich – die Sorge vor ihrer Zerstörung kennzeichnen. Dabei sind es vor allem jüngere Künstler, die sich dem lange Zeit so problematischen Feld wieder zuwenden. Seien dies, um nur einige Beispiele zu nennen, Andreas Maier und Christine Büchner, die in „Bullau. Versuch über die Natur“ (2006) den „Transzendenzschub“ schildern, den der Anblick von Ehrenpreis und Kleiber verursachen kann, und im gleichen Atemzug der Naturdichtung eines Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) ihre Reverenz erweisen. Sei dies der Songwriter Jochen Distelmeyer, der auf dem letzten Blumfeld-Album „Verbotene Früchte“ (2006) den „Schnee“, den „Apfelmann“ und die „Tiere um uns“ bedichtet. Oder seien dies junge Lyriker wie etwa Nico Bleutge, Marion Poschmann oder Ron Winkler, die wieder Interesse am Urwüchsigen zeigen, was wiederum die Organisatoren der Frankfurter Lyriktage dazu bewog, sich 2009 schwerpunktmäßig der „Natur, lyrisch“ zu widmen.
Auch Arne Rautenberg aus Kiel legte im letzten Jahr einen Gedichtband vor, der sich der Natur nähert, wenn auch aus vorsichtiger Distanz – darauf deutet schon der Titel „gebrochene naturen“ hin. Der Titel macht von vornherein klar, dass es keinen naiven Zugang des Gedichts zur Natur geben kann, dass sich ‚die Natur‘ aufspaltet in unterschiedliche Imaginationen, in ‚Naturen‘ eben, die immer schon gestaltet sind. Diesen Aspekt betont deutlich auch die Abbildung auf dem Buchumschlag: eine aus Papierfetzen und Verpackungsmüll arrangierte Form, ein grob zusammengetackertes Ding, in dem man eine Blume erkennen kann (und das als lockerer Verweis auf Rautenbergs Roman „Der Sperrmüllkönig“ von 2002 lesbar ist). Die Natur zeigt sich in dieser vom Autor selbst angefertigten Collage als ein Gebilde, das sich aus unzähligen Versatzstücken des alltäglichen Lebens zusammensetzt.
Diese Distanzbewegung setzt sich in den Texten selbst fort, besonders prägnant in einer literaturgeschichtlichen Abwendung: „von einem alten deutschen baum / fiel ab ein altes deutsches blatt / flog aus nem alten deutschen traum / auf eine alte deutsche stadt“. Vier Verse, viermal das Wort alt: Klarer kann man die Mythisierung des deutschen Waldes in und seit der Romantik nicht von sich weisen. Die Kehrseite dieser negativen Arbeit am Mythischen besteht im Rückgewinn eines abgenutzten Terrains, einer literarischen Bewegungsfreiheit in Sachen Natur, die Rautenberg zu nutzen weiß. Man erkennt dies bereits, ohne mehr als Überschriften gelesen zu haben, an den verspielten Figurengedichten, die sich in die Tradition des barocken Manierismus wie auch der Konkreten Poesie einschreiben: Die „schwindende nacht auf der gänseblümchenwiese“ wird durch einzelne Buchstaben verbildlicht, die, wie Blumen auf der Wiese, wild über das weiße Papier getupft sind. Wer sich darum bemüht, kann die Buchstaben zu Worten, die Worte zu einem Satz verknüpfen, der die „schwindende nacht“ mit einem weiteren Bild verbindet: „mit dem morgen licht tragen metallisch glänzende stare die sterne“. In anderen Gedichten des Bandes bildet der Textkörper einen Blütenkopf oder einen Rosenstiel.
Rautenberg entwirft verwirrende Bild- und Sprachwelten, die sich dem Unterfangen einer naturgetreuen Darstellung der Naturphänomene entschieden entziehen. Es wäre ja ohnehin vergeblich: Was wir die Natur nennen, bildet sich aus „millionen zerbilder(n)“, die den „sand“, die „sonne“, die „muscheln“ niemals treffen. Auf diese Weise – frei von abgestandenen Traditionen, frei vom Zwang vorgestanzter Semantiken – entstehen nicht selten erstaunlich treffende Schilderungen jenseits aller Klischees, wie etwa in dem Gedicht „milden“, ein klanglich anspruchvolles Spiel mit Assonanzen, das dem Leser einen letzten warmen Nachmittag im Spätsommer vors innere Auge führen mag: „wirklich die letzten weich heizenden / vergilbten sand bleichenden strahlen // wirklich die letzten weich beizenden / kamilleblut tragenden schwaden“.
Die Umgehung eindeutiger Sinnzuweisung ist verbunden mit dem Verzicht auf eine Verbindung der einzelnen Bilder zu einer Ganzheit, die man dann ‚die Natur‘ nennen könnte. Zwar sind die knapp 80 Gedichte nach dem Zyklus der Jahreszeiten geordnet – das ist dann aber auch das einzige allgemeine Ordnungsprinzip, dem dieser Band folgt. Die Gedichte selbst ergehen sich in Einzelbelichtungen, in Momentaufnahmen, die keinerlei Rückbindung an eine im Hintergrund wirkende, möglicherweise theologisch oder biologisch zu erklärende Organisation des Ganzen zulassen. „der fall eines schweren tulpenblütenblatts“, „das runde weiße kirschblütenblatt“, „drei goldene wespen“, „der erste frost“: Alles ist, was es ist – warum es ist, bleibt offen. Keine Erklärungen liefert uns das Ich, das die Gedichte, aber immer wieder auch in diesen Gedichten spricht, sondern Beobachtungen und Wahrnehmungen aus einer betont subjektiven Perspektive, dann und wann hinüberspielend in Reflexionen über das Dichter-Ich und die Dichtung, eingängige Verse, die wiederum mehr Fragen als Antworten zu bieten haben – und dabei zeigt sich nicht zuletzt der Dichter selbst als eine gebrochene Natur: „was hocken die krähen auf der straße / was hacken sie an einer nuss / was drückt mich über die maße / was denke was schreibe ich bloß / was bin ich jenseits vom rampenlicht / was sind die krähen was ist ein gedicht“.
Was ist ein Gedicht? Zumindest für die hier vorliegenden Naturgedichte lassen sich einige Antworten ableiten – das Bewusstsein, dass es keine Natur hinter der Sprache und hinter den Bildern gibt; der ehrgeizige Anspruch, Sprachbewegungen und Bildwelten jenseits abgenutzter Traditionen und sprachlicher Konventionen zu finden; die sich aus diesem Ehrgeiz ableitende Tendenz zur figuralen Variation, semantischen Verwirrung und dominant klanglichen und rhythmischen Vermittlung; die Verweigerung einer Weltdeutung, die über den Horizont des beobachtenden, erlebenden und sprechenden Ichs hinausgeht; die Schilderung eines ganz und gar irdischen Vergnügens, das ebenso wenig durch Gott wie durch die Evolution erklärt werden kann und muss.
Zugegeben, das vermittelt für sich genommen noch keinen angemessenen Eindruck von Rautenbergs Gedichten. Die Tatsache, dass diese Lyrik trotz der anspruchsvollen Freilegung neuer naturlyrischer Spielräume leicht und verspielt, streckenweise sogar eingängig wie ein Popsong daherkommt, dass diese Gedichte in der Tat „niemals langweilig“ werden, wie der Autor selbst in einem Essay zur Poetik fordert, bereitet ein ganz und gar ungebrochenes Lesevergnügen.
Christopher Ecker im Saarländischen Rundfunk am 24.7.2010
Naturgedichte. Arne Rautenbergs neuer Gedichtband enthält ausschließlich Naturgedichte, also Gedichte aus einem Teilbereich der Lyrik, der für manche Leser, die Gedichte ohnehin als problematisch erachten, als besonders langweilig gilt. Arne Rautenbergs Naturgedichte sind jedoch, um es vorab zu sagen, keineswegs langweilig. Und das, obwohl Rautenberg die Gedichte nach Jahreszeiten angeordnet hat. Der Band beginnt mit Wintergedichten, dann kommen Frühlingsgedichte, dann Sommer- und Herbstgedichte, und am Ende schließt sich der Kreis wieder mit Wintergedichten. Dass trotz dieses rigide anmutenden Ordnungsprinzips keine Langweile bei der Lektüre der knapp achtzig Gedichte aufkommt, liegt am Chaos der Stile und Formen, das dieser Ordnung entgegensteht und sie fröhlich zertrümmert. Rautenberg versammelt nämlich Naturgedichte der unterschiedlichsten Machart. Vom Konzeptgedicht bis zum brav gereimten Gedicht, von Konkreter Poesie bis zum kreisförmigen Gedicht - es sind derart viele unterschiedliche Stile in dem Band vertreten, dass man sich zum einen wundert, wie vielseitig der Lyriker Rautenberg ist, und man zum anderen schnell begreift, dass man ein Kompendium der unterschiedlichsten Spielformen von aktueller Naturlyrik in Händen hält. Naturlyrik verrät immer viel über die Zeit, in der sie entsteht, und das Verhältnis der zu dieser Zeit lebenden Menschen zur Natur. Betrachten wir uns beispielsweise eingehend die Naturlyrik der Romantik, so erfahren wir dadurch - mehr als durch die Lektüre von Geschichtsbüchern – einiges über die Art und Weise, wie die Menschen damals der Natur begegnet sind. Als romantische Naturgedichte geschrieben wurden, war die Natur für die Zeitgenossen ein magischer Sehnsuchtsraum, ein Ort, an dem man sich vom Trubel der Städte erholen konnte und wo man im Einklang mit der Schöpfung zu sich selbst finden konnte. Die Romantiker glaubten oder hofften, ihr Ich in der Natur zu finden. Im Gegensatz dazu ist die Natur in der Lyrik der Moderne kein Ort mehr, an dem der Mensch zu sich selbst finden kann. Der Mensch ist zerrissen, hat keine Mitte mehr, sein Ich ist völlig dissoziiert und nichts - und schon gar nicht die Natur - kann ihn zu sich selbst führen. In der Moderne wird die Natur eher als etwas neben dem Menschen Existierendes gesehen oder als etwas, das der Mensch zerstört hat, und das ihn daher nur noch mahnend an die Schattenseiten seines Wesens erinnert. Doch welche Rückschlüsse lassen Rautenbergs Naturgedichte auf unser ganz aktuelles, womöglich postmodernes Verhältnis zur Natur zu? Rautenbergs Sicht der Natur lässt sich in drei widersprüchliche und häufig ineinander verschränkte Bereiche aufteilen: Natur ist manchmal Erfahrungsraum, manchmal Störung und manchmal absolut befremdend. Befremdend erweist sich in den Gedichten vor allem die Tierwelt und darin besonders das Werden und Vergehen, dem das lyrische Ich fassungslos gegenübersteht. Etwa wenn es einen Stein umdreht und darunter krabbelnde Asseln findet. Oder wenn es hilflos anmerkt: „ich bewundere die falter die nachts/ zu hunderten trotz des harten gewitterregens / um die straßenlaterne flattern/…/ ich verachte die falter die nachts/ zu hunderten trotz des harten gewitterregens / um die straßenlaterne flattern“ Weniger befremdend als störend ist das Wetter, von dem sich das lyrische Ich meist tyrannisiert fühlt: „der frost hat sein lasso geworfen“ heißt es in einem Gedicht und in einem anderen beschreibt das lyrische Ich, wie es mit dem Fahrrad durch einen Herbststurm fährt, nass wird und sich danach sehnt zu Hause in der warmen Wohnung zu sein. Manchmal lässt sich jenseits des Befremdens und des Ärgers die Ohnmacht des modernen Menschen in einer unkontrollierbar von Jahreszeiten bestimmten Welt ablesen: „die sonne treibt mit mir ihr spiel/ ich öffne mich ihr stumm und blind / ihr folge ich und trotz dem wind / das ist nicht viel das ist nicht viel“. Dieser eher negativen Natursicht steht die Erfahrung des Meeres entgegen. Nur in den zahlreichen Gedichten des Bandes, die vom Meer handeln, wird die Natur zu etwas, das Frieden zu schenken vermag, zu etwas, das Sehnsucht erzeugt und dem lyrischen Ich ein Gefühl der Weite gibt und zugleich das erhebende Gefühl, zu Hause zu sein. Etwa in dem Gedicht „kiel“: „beim blick auf den weit geöffneten wässrigen bogen/ ziehn weiße segel reißzahngleich durchs himmel/ fleisch die möwen fern um jeden schrei betrogen/ ziehn aus dem blick sind abgebogen wellengewimmel/ mikrotosen in den ohren ohne nachdruck ohne spuren/ im kopf ein rauschen mantragleiches vorwärtstouren/ wann kommt das silber der ostsee in riesigen schwärmen/ wann hat das wasser die wärme hineinzusteigen/ wann dröhnt infernalisch ein signal in gedärmen/ wann verschwinden die fähren in eisigem schweigen“. Was erfahren wir also über unser Verhältnis zur Natur aus Rautenbergs Gedichten? Für uns scheint Natur heutzutage etwas zu sein, das neben uns her existiert, das eine Welt neben der unseren darstellt, eine Welt, die wir mal neugierig, mal verwundert betrachten. Eine Welt, die uns allerdings, da sie unkontrollierbar ist, gehörig plagen kann, etwa mit schlechtem Wetter oder herbstlichem Untergang. Doch wir scheinen auch wieder etwas gewonnen zu haben, das romantisch ist und jahrelang verloren war, nämlich die Fähigkeit, uns einen Bereich der Natur zum Sehnsuchtsraum zu erwählen, zu einem Ort, an dem uns Natur wohl tut und uns möglicherweise näher zu uns selbst führt. Für den Kieler Dichter Arne Rautenbergs ist dieser Sehnsuchtsraum die Ostsee. In seinem Band befindet sich jedoch ein Gedicht, in dem hellsichtig ein ganz neuer Aspekt aufschimmert, eine Art Ausblick, wie sich unser Verhältnis zur Natur in den nächsten Jahrzehnten verändern könnte. Besagtes Gedicht heißt „ihr denkmal steht“ und beschreibt, wie das lyrische Ich eines Tages seine Oma bei Google Earth entdeckt: „meine 88 jährige großmutter lebt/ und wenn sie mal zu lange schlafen sollte/ sagt sie meiner tochter soll man sie einfach am ohrläppchen ziehn// meine 88 jährige großmutter lebt/ hat auch diesen winter überstanden/ der nächste frühling ist immer der schönste/ wir schneiden äste machen feuer// meine 88 jährige großmutter lebt/ ihr denkmal steht bei google earth/ in ihrem entlaubten schrebergarten/ neben dem komposthaufen// meine 88 jährige großmutter lebt/ dort weiter ein winzig wider/ spenstiger blauer fleck (ihr arbeitskittel)/ mit einem weißen punkt (ihr haar)“.