Kai Sina: FAZ
Mit seinem jüngsten Gedichtband „mundfauler staub“ leitet Rautenberg, so scheint es, eine neue Werkphase ein. Zwar findet sich auch in ihm das wortartistische, bisweilen komische Spiel mit unterschiedlichen Versatzstücken des modernen Alltagslebens. Vieles darin ist aber getragen von einem sehr viel dunkleren Grundton. Ob Rautenberg in seinen Gedichten über die Liebe in Zeiten des Internets nachdenkt („skype ist nicht das gleiche“), über online-vernetzten Kapitalismus („am rechner verfolgst du den klick nach mehr geld“) oder sich mit „ner kettensäge“ ins „teletubby-land“ aufmacht, „wo alles zweimal zerschnitten wird / zerspringt“ – all diese Schilderungen sind vor dem Hintergrund einer apokalyptischen Weltsicht zu lesen. Die überdrehte Gegenwartskultur, die Rautenberg in immer neuen Konstellationen eher agressiv als larmoyant umreißt, scheint ausweglos am Abgrund zu stehen. Mit Blick auf das anstehende Weltende stellt sich die Frage nach der Zeitlichkeit des Daseins mit anderer, neuer Brisanz.
Alexander Müller: Rolling Stone
Gedichte sind prätentiöse Scheiße, humorlose Kunstkacke, unverständlicher Wortdurchfall? Nicht die von Arne Rautenberg! Der 1967 in Kiel geborene Schriftsteller, Künstler und Kulturjournalist schlägt in seinem neuen Gedichtband "mundfauler staub" einen derart heiter schwarzseherischen Ton an, dass einem die Knie schlottern und die Gesichtszüge entgleisen - und zwar vor Freude darüber, dass da jemand sein Handwerk versteht, das aber nicht mit jedem Vers hinausposaunen muss.
Die Themen- und Motivpalette reicht von Barry Lyndon bis Bierbüchse, von Friedfischen bis Fukushima; das Formenspekturm ist entsprechend vielfältig und unkonventionell. Dass Rautenberg ohne weihevolles Geraune und eitle Selbstbespiegelung auskommt, aber auch nicht den großen Sprachzertrümmerer mimt, macht seine Lyrik so unmittelbar zugänglich. Wenn bei ihm ausgerechnet ein Kinderreim das Altern in ein einprägsames Bild fasst, bezeugt dies nur die hinterlistige Raffinesse des Textes: "graue haare/ wachsen ein/ bald bist du ein kieselstein". Dass es natürlich auch vertrackter, dunkler, verspielter oder sarkastischer geht, beweist Rautenberg ein ums andere Mal.
Christopher Ecker: Saarländischer Rundfunk
Gespenst und Clown stehen am Stacheldrahtzaun
Arne Rautenbergs Gedichtband „mundfauler staub“
Der 1967 geborene Arne Rautenberg lebt als Schriftsteller und freier Künstler in Kiel. Er ist in erster Linie als Lyriker bekannt, wobei sein lyrisches Werk aus Gedichten für Erwachsene und zahllosen Kindergedichten besteht. Letztere liegen gesammelt unter dem Titel „der wind lässt tausend hütchen fliegen“ im Boje Verlag vor. Seine neuste Sammlung mit Gedichten ist jedoch für Erwachsene bestimmt und heißt „mundfauler staub“. Christopher Ecker hat das Buch, das im Horlemann Verlag erschienen ist, gelesen.
Derzeit zeichnen sich in der lyrischen Szene zwei Tendenzen ab, die kaum gegensätzlicher sein könnten. Auf der einen Seite steht eine Tausendschaft von Dichtern, die ihre Werke in Foren oder im Selbstverlag veröffentlichen, meist Werke, die von großer Subjektivität und dem oftmals unbewussten Wunsch nach Selbstentblößung geprägt sind, Werke, die hauptsächlich von Lesern gelesen werden, die selbst Gedichte in Foren oder im Selbstverlag veröffentlichen. Auf der anderen Seite dagegen steht ein kleines Grüppchen von Lyrikern, die es mit ihren Gedichten in die Programme der großen Verlage geschafft haben, und zwar mit Gedichten, bei denen man sich häufig fragt, wer sie liest und ob sie überhaupt gelesen werden, Gedichte, die zum Teil so unverständlich sind, dass man den Eindruck gewinnen könnte, diese vom Literaturbetrieb geadelten Poeten wollten sich durch stilistische Geheimniskrämerei von all den anderen Dichtern abgrenzen, die mit ihren überemotionalen Erzeugnissen die literarische Welt überschwemmen. Eine Rechnung, die nicht aufgeht, denn letztendlich schaden beide Parteien, die subjektiven Bekenner, die glauben, alles, was sich reimt, wäre ein Gedicht, und die kryptischen Bluffer, die glauben, nur das, was man nicht versteht, ergäbe tiefen Sinn, letztlich also schaden beide dem Gedicht. Doch bisweilen gelingt es einem Dichter, der keinem der beiden Lager angehört, einen anerkannten Verlag für seine Werke zu finden, einem Dichter, der zeigt, was ein Gedicht leisten kann, wozu Lyrik taugt, einem Dichter, der sich nicht um Konventionen oder Moden schert und dessen Schreiblust den Leser schlichtweg glücklich macht. Ein solcher Lyriker ist der Kieler Arne Rautenberg, der nun im Horlemann Verlag seinen neuen Gedichtband vorgelegt hat. Das Buch trägt den Titel mundfauler staub. Ein solcher Titel ist natürlich Programm, weckt er doch diverse Assoziationen. Man denkt beispielsweise an Hofmannsthals Brief des Lord Chandos, in dem der verstörte Adelige, dem die Sprache an sich fragwürdig geworden ist, offenbart: „… die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“ Und man könnte auch an Heines Gedicht Zum Lazarus denken, in dem die ganzen Fragen aufgelistet sind, die der Mensch an seinen Schöpfer richten müsste, all diese drängenden Fragen, die Gott jedoch nur beantwortet, indem er dem Fragenden mit einer Handvoll Erde das Maul stopft. Mundfauler Staub. Das ist also das, was nach dem Tod bleibt. Der zerfallende Leib, der die eigene Mundhöhle ausfüllt. Mundfauler Staub. Das ist auch das, was nicht gesagt werden kann und auf der Zunge modert, das, was aber dennoch zu sagen versucht werden muss, ehe uns der Herrgott oder Wer-auch-immer den Rachen mit Erde stopft und unsere Körper zum Selbstbedienungsladen für die Maden macht. Bereits mit dem Titel mundfauler staub zeigt Rautenberg den düsteren Kurs an, den er mit seinem neuen Band einschlägt. Die Texte darin sind pessimistische Bestandsaufnahmen wie das Gedicht mit dem Titel angekommen im exil des unbedeutsamen, das mit der Zeile beginnt: „schönes scheißhaus niemand kennt hier meinen namen“. Die Gedichte beschäftigen sich mit unerfreulichen Themen wie Misserfolg, dem Altern, der Endlichkeit. „last exit sterne sehen“ heißt es einmal programmatisch. Und immer wieder durchziehen die Texte düster-komische Visionen, die eines David Lynch würdig wären, wie etwa „gespenst und clown / stehen am stacheldrahtzaun“. Die Rolle, welche die Lyrik heutzutage spielt, wird dabei keinesfalls überschätzt. Ein Gedicht trägt den Titel 27. märz 2011 und geht so: „während das wasser / in fukushimas zer / fetztem atommeiler / die zehn-millionenfach / erhöhte radioaktivität / aufweist sind brechts / gesammelte gedichte / bei amazon auf platz / einhundertsiebenundzwanzig / tausendneunhundertundfünf“. Das lyrische Ich schreibt dennoch unermüdlich weiter und schont sich dabei nicht wie etwa in dem Gedicht dichter deutsch als christkind geboren, dessen letzte vier zeilen lauten: „kann kein englisch / will kein englisch / kann keine prosa / will keine prosa“. Und dies macht auf einmal dem Leser bewusst, womit die Verzweiflung, sei sie noch so groß, letztendlich überwunden werden kann: Durch Gedichte, in denen das Jammern mit Hilfe von stilistischen Tricks und Finten ironisch gebrochen und somit auf eine höhere Ebene gehoben wird. Ein Prinzip, das auch das Titelgedicht mundfauler staub zu mehr als einer larmoyanten Klage über die Vergänglichkeit macht: „mundfauler staub // oh jaja der mund wird so faul oh / jaja die mädchen so fleißig oh jajaj / die mundharmonika spielt oh jaja das / mundstück wird feurig oh jaja welch ein / mündungsfeuer nein oh nein dieses / mündungsfeuer oh jaja die mundtoten / sind oh jaja die mundmumien sind / brrr ihr staub ihr mundfauler staub“. Ja, Mundmumien sind die Gedichte Rautenbergs keineswegs. Sie sind vielmehr die Kampfansage an die Mundmumien. Und sind der gelungene Versuch, ernsthafte und formal bestrickende Lyrik über düstere Themen zu schreiben, weil Rautenberg drei Gefahren sicher umschifft: erstens die Gefahr, der Düsternis selbst vollends zu erliegen, zweitens die Gefahr, zu kryptisch zu sein und nicht mehr ver-standen zu werden und drittens umschifft er die Gefahr, zu schlicht und einfältig oder gar naiv bekennerhaft daherzukommen. Indem Rautenberg diese Gefahren souverän und nicht ohne Anmut umschifft, erweist er sich als Lyriker von Format, dessen Gedichte, wenn es so etwas wie Gerechtigkeit in der literarischen Welt gibt, Bestand haben müssten – denn sein neuer Gedichtband enthält alles andere als mundfaulen Staub!
Kai-U. Jürgens in den Kieler Nachrichten
Kein Zweifel: mundfauler staub, die jüngste Gedichtsammlung von Arne Rautenberg, trägt abgründige Züge - aber sie verdeutlicht erneut, wie artistisch der Umgang des vielseitigen Autors mit der Wirklichkeit ist und welche Leichtigkeit sich selbst dann erzielen lässt, wenn unangenehme Themen wie Moorleichen oder die Reaktorkatastrophe von Fukushima abgehandelt werden. Dabei liegt nicht selten schwarzer Humor nahe. Wenn es im Rückgriff auf „die alte Tradition des Lustmordgedichts“ (Rautenberg) über eine enthauptete Leiche heißt: „wollt mir dies köpflein ewig halten / es in der minibar verwalten“, wird sich der Leser das Grinsen schwerlich verbeißen können. Man merkt, der Autor erhebt sich über solche „Tagesdramen“, wenn er den unablässig dräuenden Weltuntergang auf zwei Striche reduziert und ausführt: „der eine feiert die welt als wunder / der andere streicht die welt geht unter“. Dabei werden nur beiläufig auch einmal ein paar Kalauer eingesammelt. Meist jedoch fällt Rautenbergs Bilanz trocken und erstaunt darüber aus, wie die Realität beschaffen ist – und dass sie sich immer noch als Material für sprachspielerische Gedichte eignet.
Thomas Lang im Münchner Feuilleton
Wortfaul ist er nicht: In 15 Jahren hat Rautenberg 7 feine Gedichtbände – manchmal in Kooperation mit Künstlern wie Jonathan Meese und Thomas Palme – und einen Roman vorgelegt, Haiku-Bändchen selbst gestaltet und collagiert. Er hat sich nie einkasteln lassen und so ist es auch hier: Die Gedichte in diesem Band sind federleicht und filigran, voll kindlicher Weltlust, voll Lust am Sprachspiel, voll Überraschungskunst und Schreck des Älterwerdens. Nur eines sind sie nie: pathetisch und depressiv. Wo andere schon die große Welt in ein kleines Poem zu quetschen versuchten, scheint Rautenberg zu sagen: Was ist die große Welt denn anderes als die Summe von Momenten und Einzeldingen? Und so entsteht sie vor uns aus Rosenbeet und runtergelassenen Hosen, aus Skype und Sky, aus Reim und Rauf-, äh, Lautlust. Aha-Effekte mit Verzögerung sind garantiert. Ein Beispiel?
gräberfeld
herzrasen
Da ist der Kopf ganz Körper. Da sieht die kleine große Welt ans Ende ihrer Taille.