Börsenblatt vom 28. Mai 2015


Der 1967 in Kiel lebende Dichter zieht alle Register. Voll Sprachartistik ist auch sein jüngster Gedichtband "seltene erden".

Christopher Ecker, sr2, sendung BücherLese, 29.04.2015.


Im drehenden Wind

Wie kaum bei einem anderen zeitgenössischen Dichter ist Arne Rautenbergs Literatur frei von Moden und Ideologien, und dieses Freisein führt in seiner Lyrik zu einer Vielfalt von Formen und Tonfällen. Nicht allen gefällt das, denn Rautenberg entzieht sich dadurch jeglichem Kategorisierungsbestreben. Aber allmählich erkennen immer mehr Leser und Kritiker, dass sich hinter der stilistischen Vielfalt ein Autor verbirgt, dem das Gedicht als Einzelkunstwerk wichtiger ist als die kalkulierte Wiedererkennbarkeit. Und letztlich manifestiert sich in diesem Freisein eine Auffassung von Literatur, die den Mut zum Risiko hat, eine Literatur, die mit jedem Gedicht versucht, aufs Ganze zu gehen. In seinem neuen Gedichtband seltene erden fällt einem sofort die Formenvielfalt der Gedichte auf: Es gibt Erzählgedichte, Haiku, Gedichte in Kreisform, konkrete Poesie, Lautgedichte. Mal sind die Gedichte gereimt, mal nicht gereimt, mal sind sie ernst, mal eher komisch, mal beim ersten Lesen verständlich, mal erst durch eine Zweit- oder Drittlektüre erschließbar. Und dennoch wirkt die Zusammenstellung nicht willkürlich, halten doch zwei strenge Ordnungsprinzipien die so unterschiedlich daherkommenden Gedichte zusammen. Es sind dies ein äußeres und ein inneres Ordnungsprinzip. Das erste ist der Gang der Jahreszeiten: Der Band beginnt mit Frühlingsgedichten und endet mit Wintergedichten. Das zweite Ordnungsprinzip ist eher motivischer Natur: Viele Gedichte setzen sich mit der Vergänglichkeit auseinander. Beide Ordnungsprinzipien erweisen sich somit als logische Konsequenz eines Credos, das den ganzen Band durchzieht: Lediglich die Jahreszeiten geben Ordnung in einem von Chaos geprägten Leben, das unaufhörlich dem Tode entgegenstrebt. Und hat man diesen Gedanken, der die Sammlung wie ein Wasserzeichen durchzieht, mit den beiden Ordnungsprinzipien verknüpft, entdeckt man, was Rautenberg mit der scheinbaren Willkür der Formen und Stile beabsichtigt. Er versucht damit, so viel Sinn wie möglich aus dem Kleinen und Endlichen unseres Daseins zu schlagen. Sei es, dass er in einem Erzählgedicht zeigt, wie nahe der Tod stets ist (ein Autofahrer weicht in einem riskanten Manöver einer Erdkröte aus) oder indem er ein Gedicht mit den Zeilen enden lässt: „angekommen im exil / der unbedeutsamkeit“ oder wenn es in dem Gedicht die sonne heute heißt: „dieser gedrückte greis / der ich bald bin der / vor dem fenster / auf dem gehweg kreucht / das könnt die sonne heute sein.“ Diese drei Beispiele zeigen zudem, dass die Endlichkeitserfahrung bei Rautenberg immer mit der Naturbetrachtung verknüpft ist. In Rautenbergs Weltsicht scheint die Natur nämlich der Endlichkeit des Menschen gegenüberzustehen: Gerade in der jahreszeitlichen Folge zeigt sich etwas wie Ewigkeit, die es im menschlichen Dasein ja bekanntlich nicht gibt. Und so gesteht das lyrische Ich in einem Gedicht mit dem Titel gewalt der pflanzen: „mich fröstelt / jeden frühling / vor der gewalt der pflanzen“. Arne Rautenbergs Gedichtband seltene erden erweist sich, je länger man sich darin versenkt, als ein souverän komponiertes, in sich schlüssiges und konsequentes Werk. Fernab jeglicher Larmoyanz setzt es sich mal ernst, mal ironisch, mal heiter mit dem Schicksal auseinander, ein Mensch zu sein. Dies geschieht nicht dogmatisch, sondern, wie es sich bei guter Literatur gehört, fast spielerisch. Und es geschieht nie mit Bitterkeit, sondern vielmehr mit einer milden Form der Resignation. Sehr schön zeigt sich dies alles in dem Gedicht im drehenden wind:

die chance dass alles gut wird
wird immer besser je länger
alles schlecht bleibt

soll man sich ziele suchen
die man erreichen kann?

die chance dass alles schlecht wird
wird immer schlechter je länger
alles gut bleibt

soll man sich ziele suchen
die man nicht erreichen kann?


Jürgen Brocan, fixpoetry vom 15.12.2014


Lichtreflexe und Buchstabengeriesel

Arne Rautenberg schießt mit seinem neuen Band „seltene erden“ ein sinn- und silbenfreudiges Feuerwerk ab.

Arne Rautenberg läßt sich stilistisch nicht festlegen, denn Arne Rautenberg ist ständig in Bewegung. Natürlich ist bei ihm eine gewisse Nähe zur visuellen Poesie eines Klee, Schwitters oder Finlay nicht zu übersehen, auch kommt einem vor allem im Hinblick auf die Zusammenstellung des Bandes E.E. Cummings in den Sinn, bei dem dieser reizvolle Mix aus visuellen und Strophengedichten, bald launig im Ton, bald von unbestreitbarer Tiefgründigkeit, ebenfalls zu finden war. Doch Rautenbergs Gedichte sind souverän genug, um diese ferne Verwandtschaft ohne Originalitätsverlust auszuhalten. Mit „seltene erden“ hat er seinen vielleicht bisher gelungensten Band vorgelegt. Nichts hält hier die Phantasie und Wortspiellust im Zaum, ganz mühelos werden die Möglichkeiten des Gedichts ausgelotet, von der modernen Hymne bis zum drolligen Silbentanz, von der Lautmalerei bis zur realistischen Beobachtung.

Zahlreiche visuelle Gedichte des Bandes bilden das Objekts des Gedichts selbst ab, so nimmt etwa der „winterbogen“ die Gestalt eines Bogens mit angelegtem Pfeil an, hangelt sich das „haar“ dünn die Buchseite herunter, hat eine Meditation über Harakiri die Gestalt eines Dolches, obwohl eine ganz andere Form des Selbstmords zur Sprache kommt. Noch raffinierter gehen jene Gedichte vor, die kein Objekt graphisch wiedergeben, sondern eine Bewegung wie das Glockenläuten im Nebel, das Rieseln des Schnees, oder einen Zustand wie die einsame Sonnenblume im Feld, oder eine Wahrnehmung wie das durch Lücken und Punkte imitierte Insektengesumm und -gewusel. Das mag letztlich keine Invention Rautenbergs sein, ist aber von ihm so subtil und verlockend ausgeführt, daß bildhafte und inhaltliche Ebene zu einer perfekten Synthese gelangen.

Seltene Erden sind eigentlich chemische Elemente, die zu den Metallen zählen, man unterscheidet schwere und leichte, wobei die exakte Einteilung nicht ganz unstrittig ist. Der Titel des Bandes kann darum programmatisch aufgefaßt werden, denn die verschiedenen Tonhöhen seiner Gedichte stehen dicht nebeneinander: Humoristisches findet sich somit neben Ernsthaftem, ohne daß eine strikte Trennung unbedingt erforderlich wäre; vielmehr besteht gerade in dieser ganz demokratischen Anordnung der besondere Reiz. Daß die titelgebenden „erden“ die Vorstellung unterlaufen, die man von ihnen hat, nämlich Erden zu sein, nicht Metalle, wirft zudem vorgefaßte Meinungen exemplarisch über den Haufen — denn man ist von Arne Rautenbergs Gedichten immer überrascht, sie kippen erst in diese, dann in jene Richtung, so daß man immer damit rechnen muß, mit einer erstaunlichen Einsicht, einer Aha-Pointe konfrontiert zu werden. Bei allem sprachlichen Jonglieren, das hier am Werke ist, bleibt es aber ganz irdisch, geht nie die Bodenhaftung verloren. Rautenberg versteht es, dem Zivilisationsmüll mit einer guten Prise schwarzen Humors zu begegnen, was nicht besagen soll, er nähme ihn nicht bitterernst, nein, ihm bleibt nur das Lachen nicht im Halse stecken, um sich dort gallig zu verklumpen. „der entlegene / abgrund handyempfang nein / haikuempfang ja“: kürzer und prägnanter kann man Kritik nicht fassen.

Auch wenn sich Arne Rautenberg, wie eingangs bemerkt, stilistisch nicht festlegen läßt, erweisen ihn seine Gedichte stets als einen heiteren Melancholiker, einen menschenfreundlichen Skeptiker, einen Verächter der Eingleisigkeit: deshalb sind die Gedichte einfach und schwer, klingend und rauh, spöttisch und weise. Diese Balance zu halten, ist echte Artistik. Und sie zeigt einmal mehr, mit welch zum Teil simplen Mitteln große Wirkung erzielt werden kann.