An der Steilküste morgens Halbsechs



Das Ende dieser Nacht ist gut gewählt; die Temperatur ist ungewöhnlich mild, ein warmes Lüftchen weht und es ist ohnehin eine der kürzesten Nächte des Jahres: die Sommersonnenwende steht unmittelbar bevor. Alles ist noch durchdrungen von einer frühlingshaften Wachstumsstimmung. Die Grillen lassen sich vom Zuschlagen der Autotür nicht stören und zirpen weiter durch die Gesänge der Amseln. Jede Berührung der Schuhe mit den Grashalmen benässt sie etwas mehr.

Ich bin an meinen Lieblingsplatz gekommen, um Menschen zu treffen. Ich will sie fragen, warum sie so früh an diesem einmaligen Ort sind. Dafür bin ich um 4 Uhr aufgestanden und an die Steilküste von Stohl gefahren.

Aus dem schmalen Pfad, der vom Parkplatz abführt, wird ein verschlungener Weg. Kaum merklich flattern die Blätter der Pappeln. Immer wieder durchbricht man mit dem Gesicht die Sicherungsfäden von Spinnennetzen und in die gewitterte Morgenluft mischt sich von den Feldrändern her der Duft von Kamilleblüten. Abrupt kommt der Weg an sein Ende und man steht da: weit über der allmächtigen Meeresplatte. Links von mir liegt die Eckernförder Bucht, rechts die Kieler Außenförde. Kein Mensch weit und breit. Ich setze mich auf die Bank oberhalb der langen Holztreppe, die an den steinigen Strand führt und öffne meine Sinne. Fern Brummen die Schiffsdiesel der über die Wasserstraße davonziehenden Frachtschiffe. Die Natur hat ihren großen Auftritt und ich bin ihr einziger Zuschauer. Matt schlappen die Wellen ans Land, phosphoreszierend bläut der Himmel auf, die Sonne hat den Horizont längst überschritten - gibt an Wolkenrändern ihren weißgoldenen Schein preis - hängt aber in einer über dem Meer liegenden Schichtwolke fest.

Ich frage mich, was an diesem Ort so gut tut. Es ist die unerhörte Übersicht. Plötzlich gibt es nichts mehr, das einem den Blick verstellen kann. Das muss man sich ab und an mal selbst zeigen: Man hat den Überblick! Das würde man ja sonst nie glauben...

Vielleicht ist es auch der friedliche Moment, der einem gerade an diesem Ort, wo die Urgewalt des Meeres jäh auf das steil aufragende Festland trifft, besonders sinnfällig vorkommt. Ein trügerisches Idyll, denn normalerweise herrscht hier der ungleiche Kampf zweier Elemente; seit dem geologisch gesehen lächerlich kurzen Ende der Eiszeit vor etwa 600 Generationen (also etwa 15.000 Jahren) trotzt das mächtig vor sich hinpeitschende Meer dem Land nämlich zunehmend sein Ufer ab. Knapp 60 Zentimeter pro Jahr. Das mag nicht nach viel klingen, sind aber in hundert Jahren 60 Meter, in tausend Jahren 600 Meter und in zehntausend Jahren (weltzeitlich gesehen ein Klacks) 6000 Meter. Wer einmal dort gestanden hat und sah, wie der hoch gelegene Ufertrampelpfad am Abgrund endet, weiß, wovon die Rede ist. Die schnelle und damit erlebbare Veränderung unserer Erdoberfläche: Hier kann man sie erleben. Doch auch am Abgrund stehen kann heilsam sein – wenn man umzudrehen weiß. Und Gründe dafür gibt es viele.

Der Himmel verändert sich von Minute zu Minute. Feder-, Schäfchen-, Schleierwolken feiern ihre Orgie in Pastell, überziehen die Wassermassen mit einem seichten Kupferlicht und mischen sich in die fernen Kondensstreifen – dann kommt der erste, wirklich strahlende Moment: Es ist, als ob sich im Himmel ein Auge öffnet und die Sonne durch die Wolkenlider späht (inklusive Wolkenstrahlen als Wimpern). Wer da jetzt durchblickt, möcht´ man wissen!

Und längere Schatten als jetzt kann man nicht werfen. Kurz nach 5 Uhr: das Tageslicht ist angeknipst. Wie auf Kommando legen Schwärme von Grasmücken in den Feldern los: wunderschöne Creszendostrophen schmettern sie, Stakkatomotive und kecke Triller, fliegen auf, umher und geben als Warnlaut ihr hölzernes Knarren von sich; ein wirr-schwirrender Vogellärm, der einen rasch zum Außenseiter, bzw. Eindringling macht. Der junge Morgen beginnt.

Immer mal wieder habe ich mich umgeblickt – erleichtert, niemanden zu sehen. Die Steilküste von Stohl ist eben nicht der Strand von Westerland; hier gibt es morgens um halbsechs keine frühaufstehenden Ganzjahresbader und betrunkenen Discothekenbesucher, die sich grölend in die Wellen schmeißen - - vermutlich bin ich deshalb so früh aufgebrochen, um eben niemanden zu treffen. Wie paradox, dass ich genau das Gegenteil zum Anlass nahm, aufzubrechen. Eigentlich bin ich hierhergekommen, denke ich, um mir die Frage selbst zu beantworten, warum dies mein Lieblingsplatz ist. Mittlerweile ist es halbsieben. Die Menschen fahren zur Arbeit. Und ich fahre nach Hause. Es wartet das Bett. Morgen ist auch noch ein Tag. Und heute, ja, heute ist auch noch ein Tag.