Die Welt geht hier stiller unter
Das Brecht-Haus im dänischen SvendborgVon 1933 bis 1939 lebte der aus Deutschland emigrierte Bertolt Brecht in Svendborg auf der dänischen Insel Fünen. Hier entstanden einige seiner bedeutendsten Theaterstücke sowie die «Svendborger Gedichte». 1990 wurde das Brecht-Haus restauriert, und seither steht es Stipendiaten aus Kunst und Wissenschaft als Wohnhaus zur Verfügung.
«Durch das Fenster, die zwölf Quadrate / Sehe ich einen knorrigen Birnbaum mit hangenden Zweigen.» Der Blick aus seinem Arbeitszimmer muss Bertolt Brecht während der sechs Jahre andauernden dänischen Exilzeit etwas bedeutet haben - sonst wäre er nicht mehrfach in seinen Gedichten belegbar. Man kann diesen Blick heute noch nachvollziehen, denn das lang gezogene Fischerhaus mit Strohdach und 130 Quadratmetern Wohnfläche ist ein offenes Haus geblieben. Jedenfalls für die Künstler, welche als Stipendiaten dort verweilen dürfen. Fragt man hingegen in der Tourist-Information in Svendborg nach der berühmten Liegenschaft, so wird man freundlich, aber doch bestimmt darauf hingewiesen, das Haus sei privat und damit nicht zu besichtigen. Dennoch ist es für Germanistikstudenten und Brecht-Jünger aller Altersklassen Anziehungspunkt und Pilgerstätte. Wer Glück hat, erwischt den derzeit im Haus weilenden Stipendiaten auf der Gartenbank, verwickelt ihn in ein Gespräch, lässt sich durchs Haus führen und sieht aus Brechts Arbeitszimmer hinaus in den Garten: Jawohl, da steht er noch, der Birnbaum, knorrig ist er geblieben und inzwischen so alt und morsch, dass er schwer an seinen wenigen kranken Blättern trägt. Vermutlich steht er aus sentimentalen Gründen und wegen eines Brecht-Gedichts («Naturgedicht») unter Kunstschutz.
Am 28. Februar 1933, einen Tag nach dem Reichstagsbrand, verliess Brecht mit seiner Frau Helene Weigel und Sohn Stefan Berlin. Nach einer Odyssee durch verschiedene europäische Staaten gelang Brecht über die Vermittlung der damals populären dänischen Schriftstellerin Karin Michaelis der günstige Kauf eines alten Fischerhauses auf der Insel Fünen. Brechts Gang ins Exil hatte einschneidende Folgen: Der grelle Scheinwerfer, den das Publikum auf seine Arbeiten geworfen hatte, erlosch allmählich. Brecht arrangierte sich, um im alten Sinne fortzufahren. Seiner Frau oblag es dabei, für die Wärme und Toleranz zu sorgen, damit Brecht an seinen festen Gewohnheiten und an seinem streng geregelten Arbeitstag festhalten konnte. Auch hatte sie zu akzeptieren, dass mit Margarete Steffin die Mitarbeiterin und Geliebte Brechts eintraf und dem Meister in «Dänisch-Sibirien» mit Fleiss, Geist und Körper zur Seite stand. Doch Brecht vermisste die mannigfaltige Diskussion über seine Arbeiten. So lockte er Walter Benjamin mit den Vorzügen der neuen Heimat. Fazit: «Die Welt geht hier stiller unter.»
Saftig grün liegt das Rasenstück auf der Sundseite vor dem Haus; einmal die Woche wird es von riesigen Rasenmähern der Kommune Svendborg befahren. Vor knapp 70 Jahren sass Walter Benjamin auf diesem Fleckchen, vertieft in Marx' «Kapital». Als Brecht vorüberging, so Benjamin in seinem Tagebuch, fand er anerkennende Worte: «Ich finde es gut, dass Sie jetzt Marx studieren - wo man immer weniger auf ihn stösst und besonders wenig bei unseren Leuten.» Benjamin erwiderte, er nehme die viel besprochenen Bücher am liebsten vor, wenn sie aus der Mode seien.
Vertieft man sich in die Lektüre von und über Brecht aus dieser Zeit, entdeckt man überall bedeutungsschwer kontaminierten Boden. Selbst Brechts Arbeitszimmer ist Arbeitszimmer geblieben und steht dem Stipendiaten einschliesslich Computer zur Verfügung. So blickt man vom Schreibtisch aus über den spiegelnden Sund, um festzustellen, dass dieser Blick vor siebzig Jahren kaum anders war. «Den Sund herunter kommen die Fähren», heisst es im Gedicht «Zufluchtsstätte»; dann aber: «Das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehn.»
Was macht man mit so viel unmittelbarer Literaturgeschichts-Trächtigkeit? Manch ein glücklicher Teilzeitbewohner hat davor kapituliert, davon zeugt das Gästebuch: Die eingeklebte Foto einer Stipendiatin, die aus dem Fenster schaut und sich samt neben ihr positionierter Brecht- Büste von einem Sonnenuntergang illuminieren liess, spricht Bände und evoziert idyllisches Behagen. Allerhand notierte Anbiederungen an Brecht schlagen in dieselbe Kerbe; es scheint, als sei das Phänomen Brecht heute vielen wie ein Treibmittel zur inszenierten Aufrichtigkeit.
Herzstück und Rückgrat des Hauses bleibt die hochkarätig bestückte Brecht-Bibliothek. Wer der deutschen Sprache mächtig ist, kommt nicht daran vorbei, Bildungslücken schliessen zu wollen. Brecht sah damals keine Notwendigkeit, sich die dänische Sprache anzueignen; die «ungemein leichte Sprache» lernte er nie. Aus Protest? «Wozu in einer fremden Grammatik blättern? / Die Nachricht, die dich heimruft / Ist in bekannter Sprache geschrieben.»
Bis diese Nachricht kam, sollten noch viele Jahre vergehen. Die Angst um die Existenz in der Fremde und die Wut auf die braune Seuche in der Heimat entluden sich in einem Produktivitätsschub sondergleichen. Ewig klapperte die Schreibmaschine, berichtete Frederik Martner, Journalist von «Fyns Socialdemokrat». Der sie bediente, wirkte in seiner schäbigen Kleidung zerbrechlich und trug ein bleiches Gesicht, «denn er kam fast nie aus seinem Haus».
Auf sich, seine Helfer und dänischen Freunde zurückgeworfen, schrieb Brecht Beiträge für Emigrantenzeitschriften und fertigte zusammen mit Steffin «seinen» «Dreigroschenroman», der, in Holland publiziert, einen Gutteil der Schulden für das Haus abdeckte. Die Stücke «Die Rundköpfe und die Spitzköpfe», «Die Gewehre der Frau Carrar», die Szenenfolge «Furcht und Elend des Dritten Reiches», die Erstfassung vom «Leben des Galilei» entstanden sowie die umfangreiche Sammlung der «Svendborger Gedichte». Pflichtlektüre vor Ort. Neben lenintreuen Bekundungen, Spitzen gegen das Nazi-Regime, dialektischen Kindergedichten und dem Geschichtsblick von unten (etwa im Klassiker «Fragen eines lesenden Arbeiters») finden sich in den «Svendborger Gedichten» Texte, die Brechts Empfinden während der Exilzeit unmittelbar belegen. Ferner steckt ein anderer, etwas unaufdringlicherer Keim in dieser Sammlung: die Natur.
Brecht, der in der Natur und deren Schilderung vor allem einen Beschleuniger für Sentimentalität, Unechtheit und Weltfremdheit, kurz, Empfindsamkeit für eine verbrauchte Bourgeoisie sah, fand sich nun zurück zur Natur gezwungen. Nicht Brecht näherte sich also der Natur an, die Natur näherte sich Brecht an. Sie zwang den Dichter, hier, wo der Puls der Zeit um einiges schwächer fühlbar war, sich zu ihr in Beziehung zu setzen. Brecht tat dies auf seine unnachahmliche Weise; im stärksten Svendborger Gedicht, dem lyrischen Testament «An die Nachgeborenen», brachte er sein Problem mit der Natur auf den Punkt: «Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst.»
Die Tatsache, dass das dänische Brecht-Haus in dieser Form heute, in Zeiten konservativer Regierungswechsel, noch Bestand hat, ist der engagierten Kommission des Hauses zu verdanken. Noch in den achtziger Jahren versuchte man, mit Hilfe von DDR-Kontakten ein Brecht- Museum anzuregen. Die DDR schickte sogleich Brecht-Tochter Barbara zu Sondierungsgesprächen. Doch aus den Museumsplänen wurde nichts. So belebten Persönlichkeiten aus dem Wirtschafts-, Politik- und Kulturbereich das Brecht-Haus vor zehn Jahren als Stipendiatendomizil. Kirsten Nicolaisen, Mitglied der Kommission und guter Geist des Hauses, weiss zu berichten, dass sich mancher Stipendiat von Einheimischen fragen lassen musste, ob er etwa auch ein «Roter» sei - wohl kaum, eher schon erholungsbedürftig für kommende Krausköpfigkeiten, zu denen nicht zuletzt Brecht vorbildlich animieren darf. Gegen Ende seines Lebens gedachte Brecht sich noch einmal nach Dänemark zum Arbeiten zurückzuziehen und hatte eigens zu diesem Zweck erneut ein Haus an der dänischen Küste gekauft. Die Sehnsucht nach der Svendborger Arbeitsoase hat ihn nicht verlassen. Andere hat diese Sehnsucht eben erst gepackt.
(Neue Zürcher Zeitung, 26. Oktober 2004)