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Der Weißdorn 1972 - Foto Heinrich Rathje

Ein Mann von einem Baum

Wir haben Frank Zappa gehört auf dem Weg zur Insel. In Heinrichs Autoradio ist ohnehin nur ein einziger Musiker gespeichert, und das gleich 120 Stunden lang.

Die Anreise zur Insel Æbelø ist abenteuerlich. Man muss den Wagen auf einem Parkplatz stehen lassen und dann zu Fuß gehen, durch wadenhohes Wasser. Für uns ist der Weg heute beschwerlich. Exakt zur Ankunftszeit, um 12 Uhr, hat das Wasser seinen höchsten Stand erreicht. Zudem drückt der Wind das Seichtwasser an den eingeschlagenen Orientierungspfählen entlang in die Nehrung. Und zu allem Überfluss regnet es bereits den ganzen Vormittag. Wir suchen einen Baum. Den einen, ganz besonderen Baum, der Heinrich Rathje bereits seit knapp 40 Jahren beschäftigt. Heinrich, Typ Wikinger mit blonden Lockenhaaren, Zauselbart, goldenem Ohrring und großen, sommerbesprossten Händen, war 1972 zum ersten Mal hier. Als 23-Jähriger mit seiner Piratenjolle, einem "Boot für wilde Kerle", wie Heinrich sagt. Zu Hause, in Eckernförde, hat er damals oft an der Küste gestanden, aufs offene Meer geblickt und sich gefragt, wie es auf wohl der anderen Seite, hinter dem Horizont aussieht.

Also packte Heinrich eines Tages seine Freundin in den Piraten, der eigentlich eher für Binnengewässer ausgelegt war, schnappte sich eine Autokarte und segelte in der dänischen Südsee umher. Auch Fünen wurde umrundet. Oben im Norden der Insel entdeckte er dann knapp zehn Kilometer östlich des beschaulichen Fischerdörfchens Bogense die kleine Moräneninsel Æbelø. "Wir legten den Piraten vor Anker und suchten einen Platz für unser Zelt. Man konnte den Baum nicht übersehen, das war ein Solitär." Nah an der Steilküste stand er also, der Baum: ein Weißdorn, dessen Stamm sich zweiteilte, weiter oben wieder vereinte, sich abermals teilte und schließlich erneut zusammenfand. Die Krone war derart kräftigen Westwinden ausgesetzt, dass sie, einer bizarren Fahne gleich, vollends gen Osten davonwuchs.

"Ich hatte damals nur eine schlechte Kamera dabei", sagt Heinrich. "Da dachte ich: Hier musst du im nächsten Jahr noch mal hinfahren. Mit einer besseren Kamera." So fuhr Heinrich 1973 erneut nach Æbelø und machte ein Bild vom Baum. Und dann immer wieder. So nahm die Geschichte von Heinrich und seinem Baum ihren Lauf.

Jedes Jahr kommt die Zeit, in der Heinrich nach Æbelø fährt, seinen Baum im Sucher scharf stellt und abdrückt. Mal Ende April, während der Baumblüte, mal im September, wenn er Früchte trägt, meistens zur Sommerzeit. Jedes Mal wandert ein neuer Abzug an die holzvertäfelte Arbeitszimmerwand in Kiel-Schilksee. Wie sich die Bilder gleichen, denkt man auf Anhieb, und doch tun sie es nicht. Neben den Licht- und Laubverhältnissen wechselt auch die Fotoästhetik, je nach Dekade und Stand der Kameratechnik. Zudem dünnen die harschen Witterungsverhältnisse das tote Gezweig im Weißdorn mit den Jahren aus, wodurch der Baum zusehends an Charakter und Kontur gewinnt: Immer länger und aberwitziger wird seine Krone.

1997 dann war der Baum plötzlich weg. "Ich dachte: Jetzt sind sie mit der Motorsäge gekommen", sagt Heinrich und lacht. Tatsächlich hatten die Wurzeln des Weißdorns am Rande der Steilküste einfach ihren Halt verloren. Der Baum stürzte ab. In den ersten Jahren am Boden brachte er noch frische Triebe hervor, dann fügte er sich dem Verfall. Doch Heinrich wäre nicht Heinrich, wenn er sich davon unterkriegen ließe. Längst hängt an diesem Ausflug weit mehr als nur der Baumbesuch. Heinrich ist nämlich "dänophil" – er spricht fließend Dänisch, liebt Land und Leute. Heinrich weiß, wo es die besten Fuchsien zu kaufen gibt, welcher Autohändler die kuriosesten Roadster feilbietet und wo die schönste Bäckereifachverkäuferin arbeitet. Er weiß, in welcher Straßenkurve wilde Kirschen wachsen, und natürlich weiß er auch, wo man seinen Wagen parken muss, um auf die Insel Æbelø zu gelangen. Wir schlüpfen in Badehose und Regenmantel. Dann waten wir eine dreiviertel Stunde lang durch Schlick und hüfthohes Wasser. Ohne dass man es recht bemerkt, ist es anstrengend. Auf dem grasigen Inselteil Æbelø-Holm angekommen, geht es über einen geraden Wanderpfad zur Kiesbankverbindung, über die man schließlich den bewaldeten Hauptteil der Insel erreicht. Schuhe aus, Schuhe an, Schuhe aus, Schuhe an. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts fanden auf Æbelø ein paar wenige Familien mit Fischfang, Viehhaltung und Holzschlag ihr Auskommen. Einige Höfe gab es damals und sogar eine Schule. Heute ist die Insel unbewohnt. Viel Weite und bleiches Licht. Über die Salzwiesen streift der Wind, und die Stranddisteln, Dünengräser und Heckenrosen nicken dazu. Bis auf das Haus des Leuchtturmwärters und ein weiteres sind alle Bauwerke abgerissen worden. Æbelø bleibt sich selbst überlassen.

Wo aber ist nun der Baum? Gut durchnässt suchen wir den Steilküstenabschnitt ab. "Normalerweise liegt er hier", brummt Heinrich. Doch wir finden nichts. Bloß Flintsteine klickern unter unseren Schuhsohlen. "Lass mal noch weitersuchen." Gerade als wir im Nieselregen frustriert von dannen ziehen wollen, entdecken wir ihn dann doch: ein rundes Stück Holz mit der vertrauten, markanten Windung, 100 Meter gen Süden abgetrieben, zwischen allerlei entwurzeltem Schwemmholz. Für einen feierlichen Augenblick bricht der Himmel auf, und die Sonne strahlt. Heinrich macht das vierzigste Foto von seinem Baum.

Als wir uns nach einiger Zeit abwenden und auf den Rückweg machen, drehe ich mich noch einmal um. Genau jetzt, genau hier kommt sie wohl an ihr Ende, die Geschichte von Heinrich, dem Mann mit dem Wikingerherzen, der Jahr für Jahr seinen Baum aufsucht. Wer weiß, wohin das Schwemmholz im nächsten Winter treiben wird. Auf dem Rückweg hören wir Frank Zappa, natürlich.


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(In: DIE ZEIT, 23.9.2011)