In Meeressphären
Eine Nordlichterei und eine poetische ReflexionManchmal denke ich, ich bewege mich in meiner Stadt wie ein Blutkörperchen in einem Herzkreislaufsystem; die Straßen sind die Adern und die Stadt ist ein Körper, der das Meer im Herzen trägt. Würde man meine Bewegung in diesem Stadtkörper aus der Vogelperspektive betrachten und zeitraffen, man könnte sehen, wie ich immer wieder zu diesem Meerherzen hinpulsiere, um mir eine Extraportion Lebensschwung abzuholen. Am besten hätte man diese Bewegung nachvollziehen können, als meine Frau schwanger war. Wir gingen täglich den Uferweg an der Kiellinie entlang, am Seehundsbecken vorbei, an der Reventloubrücke, passierten das Landeshaus und schlenderten zum Hindenburgufer. Dort gibt es eine Stelle, die mich stets innehalten lässt. Dann blicke ich die Landstreifen der Förde ab, bis sie verschwinden und den Horizont des offenen Meeres freigeben. Und jedes Mal, wenn ich das sehe, frage ich mich, warum dieser Blick so gut tut. Und gebe mir immer diesselbe Antwort. Zum einen, weil das erhöhte Stehen auf der Promenade mir eine gewisse Übersicht suggeriert. Doch vor allem, weil ich beim Blick aufs offene Meer plötzlich nichts mehr vor mir habe, das mir den Blick verstellt. Und ich überlege, wie verstellt mein Leben wohl sein muss, dass ich mir derart an solch einem Moment der Übersicht und des Durchblicks labe.
Von was für einer Stadt die Rede ist? Von Kiel, der häßlich zerbombten, lieblos wieder aufgebauten Stadt an der Ostseeküste, dem Tor nach Skandinavien, 100 km nordöstlich von Hamburg. Man muss sich den Stadtkern wie einen roten Kreis vorstellen, in dessen Mitte der blaue Fördekeil hineinragt, wie in einer Suprematistischen Bildkonstruktion. Und macht im Hafen einmal eines der noblen großen Kreuzfahrschiffe fest, dann werden die Luxus-Passagiere flugs in Busse umgeladen und nach Lübeck kutschiert, einer ehemals ähnlich zerbombten Stadt, welche nach 45 allerdings mit Zuneigung für das rekonstruierbares Flair der Historie wiederbelebt wurde; in Kiel hingegen kennte heute noch jedes Kind die Schmähverse zum Schlag der Rathausglocken: "Kiel hat kein Geld, das weiß die Welt -"; es scheint, als sei Kiel in seiner Geschichte überhaupt nur einmal richtig zum Zug gekommen, als Kaiser Wilhelm, ein närrischer Nautiker, sie 1871 zur Reichkriegshafenstadt ernannte, dortselbst die Kanaleinfahrt für die künstliche Schiffstraße zwischen Nord- und Ostsee initiierte und mit Freude dem boomhaften Treiben der Werften entgegensah. Jules Verne, der 10 Jahre später mit seiner Yacht Saint Michel in der Bucht vor Anker ging, sang noch sein Loblied, rühmte Kiel als "Brighton Norddeutschlands" und seine Bucht als "eine der schönsten und sichersten von ganz Europa". Ein Loblied von einem auswärtigen Dichter, das einmalig bleiben sollte. Friedrich Gottlieb Klopstock kühlte sich im Fördewasser wild zu den Versen von Odysseus gestikulierend, das Gemüt. Theodor Strom verbrachte von 1837-42 seine Studentenjahre in der Stadt und verbrämte sie gelegentlich, etwa in der Novelle "Immensee", sein Kollege Fontane sah die Sache hingegen nüchtern: "Die Seeleute machen einen guten Eindruck; der Rest Durchschnittspeople von der Hamburger Sorte." Und Gottfried Benn, der 1939 inmitten der auf Hochdruck arbeitenden Werften, also der Kriegsindustrie begegnete, schrieb an seinen Freund F. W. Oelze: "Ein paar Tage war ich in Kiel kommandiert, nicht sehr angenehm, alles sehr überfüllt, rauchig russig, Docks und Werfen und Kriegsschiffe, die nicht mein Fall sind." Ohne Detlev von Lilienchron, der seine Heimatstadt elegant zu besingen wusste (zum Dank hat die Kieler Universität eine Poetik-Professur nach ihm benannt), und ohne den in Zeiten preußisch-dänischer Zwistigkeiten Mitte des 19 Jahrhunderts gefeierten Mundart-Dichter Klaus Groth, der hier sein Lebensende verbrachte, gäbe es kaum nennenswerte literarische Spuren von dieser Stadt. Die Vernichtung historischer Bausubstanz während und nach dem 2. Weltkrieg tat ein übriges, sie als offne, häßliche Wunde in den Wind der Zeit zu stellen.
Doch mich hält diese Stadt gepackt. Ich schätze ihre blessierten Ecken und Enden, mit denen mich Erinnerungen, Gesichter, Geschichten verbinden. Auch, oder gerade das, ist mir Heimat. Und ich schätze die unmittelbare Nähe zum Meer, die Fördedampfer, die im Zickzackkurs einzelne Stadtteile verbinden und einen in Nullkommanichts urlaubsartig davonkatapultieren. Und ich schätze die ewigliche Brise, den Wind, der plötzlich aufkommt, eine Veränderung mit sich trägt, einen anlandigen Geruch nach Salz oder einen ablandigen nach Heckenrosen, Mutterboden, Rost.
Ja, meine Heimat ist, dagegen kann und soll sie sich nicht wehren, das schon tausendmal über sie Gesagte, ist ein Fifty-Fifty-Deal zwischen Klischee und Mythos. Blicke ich vor, weil ich etwas schon kenne, blicke ich zurück, weil ich etwas schon kenne. Ich blicke auf den Strand. Das Meer. Das chaotische Schachbrett der Kühe. Das eckige Rapsfeld. Fischer- und Segelboote. Räucherwaren. Das stoische Put-Put-Put-Tuckern der Schiffsdiesel. Miesmuscheln. Klampen. Feuerquallen. Nieselregen. Dröge Typen. Möwenschreie. Dann die himmlische Depressionsprogrammierung der graueningrauen Tage, die einen das Leben spüren lassen, als hätte man seinen Kopf geöffnet und bekäme ein böses Valium in die Wachphasen getrichtert. Damit muss man leben. Jedenfalls eine Zeit lang. Und natürlich weht immer wieder der Wind. Dürfte ich mir aus dem Plural hellenistischen Götterglaubens einen, meinen Gott aussuchen, es wäre fraglich, ob meine Wahl auf Dionysos, den Gott des herzerfreuenden Weines und der Ausgelassenheit fallen würde. Wäre hier nicht vielmehr Aeolos, der Gott der Winde, mein tatsächlicher Verbündeter? Er, der mir immer wieder den Kopf freibläst? - so tief es geht, ziehe ich von von der guten Luft in meine Lungen. Der Mensch muß bei vierundzwanzig Atemzügen pro Minute vierunddreissigtausendfünfhundertsechzig Mal am Tag atmen. Da kann es nicht schaden, wenn die Luft gut ist. Da wird das Gehirn mit erstklassigem Sauerstoff versorgt. Da kann man mit ausreichend Luft in den Lungen kurz innehalten und: denken. Von Innen nach Außen Gedanken versenken. Sie in wundersame Sphären lenken, in Meeressphären.
Und wenn ich am Strand sitze, die Wellen matt in den Sand schlappen höre, als manifestiere sich in ihnen die Wiederholung als das natürlichste nonverbale Mantra - durchströmt mich beim Betrachten des Meeresspiegels ein Gemisch aus Dankbarkeit und Erdverbundenheit; ich fühle mich in einer Situation, in der sich (meditative) Gedanken sammeln lassen wie kostbare Schmetterlinge. Warum? Welche poetischen Substanzen ziehen nun Dichter aus dem Meer, diesem scheinbar endlosen Illusions- und Projektionsraum? Sinnfällig ist, dass die von Menschen dem Meer zugesprochenen Eigenschaften deckungsgleich mit den sich selbst zugesprochenen Eigenschaften sind: Meer und Mensch also als ein großes, weites, tiefes, stilles, wildes, gepeitschtes, lebensspendendes, alles umfassendes, nicht zuletzt unendlich scheinendes Etwas; zu offensichtlich ist der im Meer bildhaft innewohnende Kreislauf von werden und Vergehen - somit wird das Meer nicht selten als rauschende Trumpfkarte einer (fiktiven) Ewigkeit gezogen.
Dem Dichter obliegen verschiedene Umgänge und Reibungen mit und an dem sinnfällig-unvorstellbaren Wassermassen. Erst einmal hat er, und dies wird niemals aufhören, das Phänomen Meer in seinen vielgestaltigen Erscheinungsformen nachzuspüren und die besondere Anschauung im Spiegel seiner Wahrnehmung poetisch zu transferieren. Es gibt mehr als den Sonnenuntergang, auch wenn sich in ihm die gegensätzlichen Elemente von der süßkandierten Seite beieinander zeigen; viel elementarer ist die Sucht des Suchens nach den seltsamen Auswüchsen empfundener Einmaligkeit. Im eisigen Februar bin ich an einem steinigen Strandabschnitt spazieren gegangen, der von toten Seesternen übersät war. Ich schrieb ein Haiku: Seesternsterben. Der/ Unvorstellbare Weichgang/ Über die Steine. - Das Besondere manifestierte sich ebenso im Allgemeinen, wie sich das Allgemeine auch im Besonderen finden lässt: Die See ein Spiegel/ Wieder doppelte Präsenz/ Für die da oben! - kurz: das Meer ist ein dankbarer Beschleuniger für Symbole und Allegorien. Es ist sicher kein Zufall, dass mir während einer Strandpartie Form und Inhalt eines Gedichtes in den Gedankenschoß fiel, dass ich beim Blick aufs Wasser bereit war, mich dem Schein der fiktiven Ewigkeit hinzugeben. Ohne groß zu überlegen setzte ich ein Gedicht über das Kreisen von Werden und Vergehen in einen Kreis, malte einen weiteren Kreis daneben und setzte diesselben Sinnabschnitte des Gedichts nocheinmal in umgekehrter Reihenfolge dort hinein. Ein Gedicht, aus zwei Kreisen, einmal vorwärts, einmal rückwärts, das Ende gerät zum Anfang, der Anfang zum Ende; die Form für ein adäquates, unendliches Gedicht. Und es fiel mir einfach so zu. In einer Sternstunde am Meer. Einen Sommer arbeitete ich mich anschließend und ausschließlich an dieser Form ab, ich träumte davon, dankbar und glücklich, sie gefunden zu haben.
Bleibt eine dritte Möglichkeit, nämlich die, sich am Schein der fiktiven Ewigkeit zu reiben, sie als Täuschung zu entlarven und mehr oder weniger direkt memento moris zu entwerfen, somit die Ratio zu beschwören: millionen verscherbelter muscheln/ keine uhr fasst diesen sand kein/ nagel den lauf dieser sonne// kein wasser wäscht deine hand kein/ boot drückt sich dir an die tonne/ millionen zerrbilder nuscheln. - Sind wir denn so anmaßend in unserem ingnoranten Überlebensprogramm, daß wir das Ticken unsrer Uhren zu vergessen trachten? Dabei könnte es so einfach sein: Der Mensch ist Mensch, das Meer ist Meer, der Mensch geht, das Meer bleibt. Dann nimmt die Melancholie die Sehnsucht in den Schwitzkasten. Und sie balgen wie zwei Jungs im weißen Sand - ohne zu merken, dass sie von einem drohend kitschigen Sonnenuntergang illuminiert werden wie zwei seltsam verjüngte Titanen.