Möge die gemeine Hundsrose blühen!

Gedichte eröffnen einen Raum, in dem die Regeln wanken lernen. Das begreifen Kinder am Besten. Aber Jugend und Poesie finden immer seltener zueinander: Eine Bestandsaufnahme.


Neulich bei einer Tagung zur zeitgenössischen Kinderpoesie brachte es der legendäre Herausgeber Hans-Joachim Gelberg auf den Punkt: „Es ist fatal, bist du einmal als Kinderdichter eingeordnet und eingezäunt, kommst du nicht mehr auf die Weide, wo die großen Tiere sind.“ Die Rede war vom Dichter Josef Guggenmos, der nahezu in jedem Schullesebuch vertreten ist, an dem der große Literaturbetrieb allerdings vorbeigerauscht ist. Symptomatisch für alles, was mit Kinderpoesie zu tun hat, denn das Kindergedicht hat einen schweren Stand. Das merke ich selbst, der ich vor zehn Jahren begonnen habe, auch Gedichte für Kinder zu schreiben. Der gutgemeinte Ellenbogencheck meiner Kollegen ließ nicht lange auf sich warten: Um Himmels Willen, du machst dir deinen Ruf kaputt!

Ich habe das immer anders gesehen und sehe es nun, da ich durch viele hundert Schulen mit meinen Kindergedichten getourt bin, nochmal anders. Mir ist schon immer klar gewesen, dass es in der Kunst, in der Poesie um „die Sache“ geht, ich möchte es „Mission Poesie“ nennen: Die Poesie vom Abstellgleis, auf dem sie sich weiterhin befindet und vor sich hinstaubt, zu holen und wieder vermehrt in unsere Lebenswirklichkeit einzubringen. Mission Poesie: Es muss einfach mehr geben, als bloß zu funktionieren. Ich habe den Eindruck, die Schulen schaffen es kaum, das kreative Potential der Kinder (Chaos als lebendige Ordnung!) anzubohren. In Problemklassen habe mich manchmal schon gefragt, ob Gedichte da das Richtige sind. Doch manchmal, wenn ich das Reimlexikon hochhalte, wir es auf Zuruf ausprobieren, wird es interessant. Wenn ich sage: „Und damit arbeitet jeder deutschsprachige Rapper!“ kann ich manchen Sturen der Klasse erreichen; am Ende wollen sie selber Gedichte schreiben.

Vom Hochfeuilleton wird die Kinderpoesie gemieden. Einzelgedichtbände von Kinderdichtern gelten als so gut wie unverlegbar. Und für preiswürdig sind Gedichte für Kinder schon gar nicht zu befinden; da hält man sicher eher an die als ernsthaft geltende Lyrik. Diese kreist meist um den Bruch, das Dunkle, das Verlorene, nie zu Findende. Und das ist auch gut, denn gerade dieser Gattung ist es in den letzten Jahrhunderten immer wieder gelungen, an den Rändern des Unsagbaren zu fischen, Worte und Bilder an Land zu ziehen, die von wenigen Ergriffenen dankbar aufgenommen werden, weil sie überraschend treffend für unsere Reise ohne Ziel erscheinen.

Doch müssen Gedichte für Kinder genauso gestrickt sein? Kinder schauen anders in die Welt. Sie wirbeln im Hier und Jetzt, haben ihr Leben vor sich, blicken in der Regel unbedarft und optimistisch in die Zukunft. Die Freude am Spiel treibt sie zu neuen Erkenntnissen – innerfamiliär und sozial gilt es mit erwachendem Bewusstsein, sich gegen andere zu behaupten, Standpunkte auszubilden, Strategien des einigermaßen Klarkommens zu entwickeln. Und dem durch die Schule mit ins Leben eingebrachten Leistungsdruck irgendwie standzuhalten – spätestens in der Schulzeit kommen Kinder auch mit Gedichten in Kontakt.

Dieser erste Kontakt scheint mir äußerst wichtig. Gelingt er nicht, kann er die Kinder nicht packen, sie in ihrer Lebenswirklichkeit abholen, bzw. mental ansprechen, kann es für die Restlebenszeit des Kindes für das Gedicht schon zu spät sein. Lernen Kinder Gedichte nur als interpretierbare Folie kennen, anhand derer ihre Gedanken zum Gedicht von Lehrkräften als richtig oder falsch abgehakt werden, so geht das am eigentlichen Wesenszug der Dichtung vorbei. Denn eine Grundregel der Interpretation besagt, dass interpretierbar ist, was in einem Kunstwerk angelegt ist, ob vom Autor (oder einer Lehrkraft) intendiert oder nicht, ist hierbei völlig egal.

Warum nicht einfach ein Kindergedicht zu Beginn einer jeden Deutschstunde vorlesen und im Raum stehen lassen – weil es Freude macht und die Gedanken anregt? Eine Lektion in „die Autonomie des Kunstwerks“ sowie ein wunderbares Fördern von Sprachkultur wäre das obendrein. Die Idee kommt vom Herausgeber und Kinderdichter Uwe-Michael Gutzschhahn. Er berichtet von der Ablehnung der Lehrkräfte, die sein Vorschlag erfahren hat, rasch hieß es nämlich: „Das geht einfach nicht…“

Die Macht und die Ohnmacht, als Kind und als Dichter – als Dichter fühlt man sich schnell wie ein Kind und Erwachsener zugleich. Ich zitiere noch einmal Hans-Joachim Gelberg: „Kind und Dichter finden leicht zusammen. Beide wollen spielen.“ Ja, wollen wir! Allerdings, so sehe ich das, nicht nur im festen metrischen Rahmen mit Endreim. Klar, Gereimtes merkt man sich schneller. Der Reim setzt dem Suchenden im Gedicht ein stabilisierendes Moment entgegen und transportiert in letzter Konsequenz sinnfällig etwas von der Idee, dass alles in der Welt seinen Platz hat, jedes Wort, jeder Mensch. Gegenfrage: Ist es denn so, dass alles und jeder auf dieser Welt seinen Platz hat? Denken wir nur mal an die heutigen Zeiten – da ist er wieder, der Bruch. Und die Frage stellt sich: Sollen wir in einen Raum der Sorglosigkeit, der naiven Utopie flüchten?

Hier liegt m. E. der entscheidende Punkt, aufgrund dessen sich viele Dichterinnen und Dichter nicht an Kindergedichte herantrauen; weil sie keine Scheinwelt befüttern wollen, die es nicht gibt. Und plötzlich sind die Vorurteile des Scheiterns der Kinderpoesie wieder ganz nah, etwa der betuliche Ton (den der Dichter Thomas Kling „Agnes-Miegel-Gedächtnishäkeln“ genannt hat) oder irgendwelche schlecht getarnten Zeigefinger oder der gedankliche Sprung in die flauschige Welt der Diminutive, weil sich der Irrglaube eingeschlichen hat, dass Verniedlichungen niedliche Kinder doch ansprechen müssten. Allerdings hat sich seit der Jahrtausendwende auch einiges in Sachen Kindergedicht getan. Unter dem unverwüstlichen Label „Hausbuch“ sind viele wunderbare Anthologieprojekte erschienen (u.a. von Gelberg, Knödler, Tornai, Gutzschhahn). Die Bilderbuchzeitschrift „Gecko“ veröffentlicht wacker in jeder Ausgabe ein illustriertes Kindergedicht. Und natürlich ist die im Boje Verlag erschienene Reihe „Gedichte für neugierige Kinder“ zu nennen, die Natalie Tornai zusammen mit Ulrich Störiko-Blume im Jahr 2008 gestartet hat – und die inzwischen bei Bastei-Lübbe nach einem guten Dutzend Ausgaben etwas vor sich hindümpelt; derlei hatte es vorher noch nie gegeben: Eine erstklassig illustrierte Hardcover-Gedichtreihe ausschließlich für Kinder. Mit bekannten Namen wie Mascha Kaleko oder Boy Lornsen, doch auch mit aktuellen Dichtern wie Jan Koneffke oder Mathias Jeschke; auch mir gab man dort ein Chance. Diese Reihe war und ist ein echtes Leuchtturmprojekt für die deutschsprachige Kinderlyrik. Doch die Reihe läuft aus und es ist kein neuer Silberstreif am Horizont in Sicht. Unabhängige Verlage wie Jungbrunnen oder Peter Hammer sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten dabei, Kindergedichte mit gelegentlichen Einzelbänden am Laufen zu halten; bei Hanser erschien 2011 ein Band von Franz Hohler - - kann das schon alles sein?

Neulich war ich in Hildesheim und sah mir das Sakralbauten-Ensemble des Mariendoms an. Hinter den Chor der Domkirche wächst der tausendjährige Rosenstock. Es handelt sich dabei um die älteste bekannte Rose der Welt, laut Sage im Jahr 815 von Ludwig dem Frommen, einem Sohn Karl des Großen, gepflanzt. Mindestens ist er aber 700 Jahre alt. Bei einem Bombenangriff am 22. März 1944 brannte der Rosenstock nieder und lag unter den Trümmern der zerschmetterten Apsis begraben. Doch das Wurzelwerk saß so vital im Boden, dass schon acht Wochen nach der Zerstörung 20 neue Triebe aus den Trümmern wuchsen, sodass die gemeine Hundsrose drei Jahre nach der Zerstörung wieder 122 Blüten tragen und zu einem Symbol der Hoffnung reifen konnte – entsprechend gehegt, blüht sie bis heute.

Die Kinderlyrik kommt mir wie diese gemeine Hundsrose vor. Ja, sie ist vergessen, wird nicht hochgehalten, nistet in den didaktischen Sphären des Schulbuchs ihr unterirdisches Schattendasein. Dabei ist sie von unvorstellbarer Wichtigkeit für die Mission Poesie. Und sie treibt weiter ihre Blüten aus, gerade jetzt – Symbole der Hoffnung dafür, dass jenseits des gewohnten Lebens das gewohnte Denken in Frage gestellt werden kann.

Die Leserinnen und Leser der Kindergedichte von heute sind vielleicht die Leserinnen und Leser der Lyrik von morgen; lasst sie uns also mitnehmen! Die Arbeit in Schulen scheint mir dafür unerlässlich, um die Sprache als Hort der Möglich- und Widerspenstigkeit weiter zu geben, Chancen und Kräfte zu erproben. Hier, an den Schulen, kann man an einem Punkt ansetzen, wo das anarchische Potential noch nicht völlig eingeknechtet ist in ein System der Vergleich- und Bewertbarkeit. Poesie eröffnet einen Raum, in dem die Regeln wanken lernen. Poesie ist etwas zutiefst Menschliches. Ich bin davon überzeugt, dass der Gestaltungswille den Menschen mit in die Wiege gelegt worden ist. Poesie als Schleichpfad hin zur Verführung – bevor alles von der Super-Herrschaft der Ratio plattgewalzt und zubetoniert ist – damit hinterher ein Parkplatz mit aufgemalten Parkbuchten für verinnerlichte Gemeinplätze daraus wird.

Was ich sagen möchte, ist: Wir brauchen die Kinderlyrik. Wir brauchen mehr Aufmerksamkeit für Kinderlyrik. Wir brauchen Preise für Kinderlyrik, die medial wirksam in Szene gesetzt werden können. Wir brauchen ein Jahrbuch der Kinderlyrik, das in den Schulen bei den Lehrkräften ankommt – damit wir die Kinder abholen und für Gedichte begeistern können.

Letztlich ist das Sensibilisieren für die Poesie nichts anderes als eine Lektion in Freigeistigkeit, die helfen kann, das lustvolle und zwanglose Denken zu fördern. Freier Geist und Spiel sind gute Gefährten, um sich ans Unvorstellbare heranzuwagen und den menschlichen Brainpool zu erweitern. Denn mit neuen Zeiten werden neue Herausforderungen an die Menschheit herangetragen. Da gilt es nicht nur gedanklich flexibel zu sein, sondern schlichtweg weiter denken zu können als andere. Um Auswege aufzuzeigen, braucht man nicht nur Vernunft, man braucht auch Phantasie. Die zu entwickeln beim Schreiben, Hören und Lesen ist die schönste Blüte, welche die Poesie hervorbringt.

In: FAZ vom 5. März 2016