Alle Mädchen sollten ein Gedicht haben
Alle Mädchen sollten ein Gedicht haben,
das nur für sie geschrieben ist, und wenn
wir dazu diese gottverdammte Welt
auf den Kopf stellen müssen.
Richard Brautigan
Irgendetwas muss in diesem Moment passiert sein. Ich hatte gerade mein Abitur in der Tasche, lag mit meiner Freundin im Bett und sah fern. Ein Kulturprogramm stellte den amerikanischen Autor Richard Brautigan vor. Der Eichborn-Verlag hatte sich dazu durchgerungen, seine Werkausgabe herauszubringen. Ich weiß nicht mehr genau, was ich da sah – seit ein paar Jahren interessierte ich mich für Kunst, vor allem für Dada, und, mehr oder weniger diffus, für das Schreiben. Jedenfalls fuhr ich am nächsten Tag mit dem Bus in die Stadt und kaufte mir die frisch gedruckten ersten beiden Bände der Werkausgabe. Einen Gedichtband: Die Pille gegen das Grubenunglück von Springhill und eine Storysammlung: Der Tokio-Montana-Express.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich auf der Rückfahrt mit klopfendem Herzen im Bus saß und blätterte. Dabei stieß ich auf kurze Gedichte wie Landkartendusche: Ich möchte, daß mich/ dein Haar mit Landkarten/ neuer Orte bedeckt,// damit überall, wo ich/ hinkomme, alles so schön ist/ wie dein Haar. Das war einfach, schlicht, unakademisch, kitschig und trotzdem raffiniert. Ich musste an die blonden Locken meiner Freundin denken. Rückwirkend kann ich sagen, dass ich der aus den Texten von Brautigan herausdampfenden Wärme erlag. Diese Wärme ist eine Vorstufe der Liebe, mit dem Unterschied, ein diffuseres Phänomen zu sein: Sie fasst und strahlt breiter und schwächer und damit allgemeiner, als die Liebe. Kurzum: Die Brautigansche Wärme erfasste mich – dieses Leseerlebnis legte mir einen behaglich-intimen Kosmos frei, in dem die gemeine Alltäglichkeit als glitzernde Surrealität gefeiert wurde und mir zugleich das Gefühl vermittelte, dass ich gut kannte, wovon ich las. Ich begriff meine eigene alltägliche Existenz unvermittelt auch als etwas Besonderes – und werte sie mir seither mit einer sensiblen Aufmerksamkeit auf.
Ich sitze in einem Café/ und trinke Cola.// Eine Fliege schläft/ auf der Papierserviette.// Ich muß sie aufwecken,/ damit ich meine Brille putzen kann.// Da drüben sitzt ein hübsches Mädchen,/ das ich anschauen will. Das Gedicht 3. November zeigt besagte Aufmerksamkeit exemplarisch; eine Verkettung von Nebensächlichkeiten summiert sich zu einer Utopie der wechselseitigen Anerkennung: So präzise, wie ich die Welt wahrnehme, nimmt die Welt (in Form eines hübschen Mädchens) vielleicht auch mich wahr – und gibt mir möglicherweise sogar etwas (in Form eines hübschen Mädchens). Wie anders herum ein aus der Minimal-Beobachtung gewonnener Augenblick ins Surreale gedreht werden kann, um im Allgemeinen anzukommen, zeigt das Gedicht Der schreckfarbene Schatten einer verängstigten Ameise: Der schreckfarbene Schatten einer verängstigen/ Ameise/ will mit dir Freundschaft schließen, alles über deine/ Kindheit wissen, will mit dir weinen und mit dir/ leben. Hier wird der flüchtige Schatten eines Kleinstlebewesens (also bloß ein Abbild – das ist noch weniger!) poetisch erweckt, um den Leser direkt in seinen elementarsten Liebesbedürfnissen anzusprechen - - eine Metapher für den Ausdruck tiefer Wertschätzung aller, auch der allerkleinsten Phänomene an sich. Ein Schrei nach Totalsensibilisierung.
An diesem Punkt zeigt sich ein besonderes Kennzeichen der Brautigan-Texte: die Lektion nämlich, das Kleine mit derselben Aufmerksamkeit zu behandeln wie das Große. Der programmatische Ansatz hinter der Lektüre wird klar: Mache das Kleine groß und das Große wird klein. In der poetischen Relativierung der Größenverhältnisse steckt die ungeheure Chance, alles, das Kleine wie das Große, mit einem neuen Blick sehen zu können; das durch die Gewohnheit unsichtbar Gewordene taucht als liebens- und bedenkenswert wieder auf, indem es sich in einer gemeinhin als hoch geltenden Form, also der des Gedichts, feiern lässt. Diese Dynamik macht einen Großteil der kitzligen Reibungswärme aus. Von hier ist es nicht weit zum Zen-Ansatz (Brautigans Japanophilie kommt nicht von ungefähr): eine durch die persönliche Lebensweise und Haltung verbundene Einsicht jenseits der Vernunft; das Aufgehen in einem Moment, in dem man sich zu gleichen Teilen vergißt wie selbst dabei beobachtet - - das Sichvergessen oder Versenken in Augenblicke, die einen aufzusaugen imstande sind, kennt jeder; sich dabei zu beobachten nicht. Eine Empfindlichkeit für die Selbstbeobachtung zu schüren, einem die eigene Haut zu verdünnen, das ist Brautigans Mission.
Damit einher geht ein antirationaler Reflex – in Aussage und Habitus gegen alles Akademische zu sein, also gegen Einbahnstraßenwahrheiten; sein Werk ist ein Plädoyer für die bewusste Subjektivität und gegen politische Instrumentalisierung.
Brautigan wäre nicht Brautigan, hätte er seinen Zen-Ansatz im Gedicht Haiku-Ambulanz nicht selbst wieder in Frage gestellt: Ein Stück grüne Paprikaschote/ fiel/ aus der hölzernen Salatschüssel:/ na und? Das Vermeiden letzter Wahrheiten gehört zum Programm der Absurdität des Lebens.
Brautigans berühmtestes Buch Forellenfischen in Amerika verkaufte sich zwei Millionen Mal und war selbst für Amerikaner ein neuartiges Leseerlebnis. In 47 Episoden wird der amerikanische Traum beschworen, um milde dessen Herztod zu diagnostizieren; dem idyllischen Entwurf des alten Amerika begegnet der Ich-Erzähler, ein Aussteiger, mit stets neuen anarchischen und komischen Spitzen. Als der Roman 1967 erschien, konnte man auf dem Umschlag ein Foto des Autors bessehen: lässig mit großkrempigem Hut und Schnauzbart posiert er in San Francisco vor der Benjamin-Franklin-Statue - ein Hippie-Kultautor war geboren. Eine Schublade, aus der Brautigan nicht mehr herauskommen sollte, die seinen Ruhm begründete und die ihn leiden ließ, als der Zeitgeist ihn in den 70er Jahren auf der politischen Spur überholte. Bis 1984 schrieb Brautigan sich mit weiteren, zunehmend düster gefärbten Romanen, Erzählungen und Gedichten in die amerikanische Literaturgeschichte ein.
Im leichtfüßigen wie mitreißenden Storytelling an Hemingway geschult, im Leuchtenlassen der Natur Emily Dickinson verbunden und im Verweben der eigenen Seelennöte und Glücksmomente frei wie ein Kind - - so kleidete Brautigan seine literarische Existenz in immer neue phantastische Gewänder. Er parodierte die beiden großen amerikanischen Genres, den Western (Das Hawkline Monster) und den Hard-Boiled Krimi (Träume von Babylon), um dennoch auf wunderliche Weise wieder in seiner eigenen Welt zu landen. Die Kritik drehte ihm einen Strick aus der thematischen Beliebigkeit, die keine großen Spannungsbögen erlaubte, sondern sich im Feuerwerk von Klein-Klein erging und in vor frechen Überraschungen strotzenden Kurzkapiteln verlor. Seit Mitte der 70er Jahre beachtete sie Brautigan-Neuerscheinungen zunehmend weniger bis gar nicht mehr.
Jedem neuen Buch gab Autor nun mehr bittere Tropfen bei. In Brautigans letzten Romanen gesellt sich zu dem warmen Ton ein anderer Gast: der warme Tod. Auch in seine spätere Gedichtsammlung Japan bis zum 30. Juni ist der kühle Windzug des Lebens mit eingeschrieben: Ich mag diesen Taxifahrer,/ der durch die Straßen Tokios/ rast/ als hätte das Leben keinen Sinn./ Mir ist genauso zumute. Nun ist es mit dieser hintergründig-dunklen Einfärbung im Werk so, dass sie, ohne es zu wollen, die glücklich machende Farbigkeit darin umso mehr und wärmer schillern, ja erstrahlen lässt.
1984 erschoß sich Brautigan auf seiner Farm in Bolinas, Kalifornien, steht in den Klappentexten der Werkausgabe. Keinen Satz habe ich in meinem Leben häufiger gelesen. Es konnte sogar sein, dass ich ein Buch nur aufschlug, um diesen Satz zu lesen. Jedenfalls erschien die Werkausgabe und es konnte passieren, dass man ins Buchgeschäft ging und auf dem Tisch zwei neu herausgekommene Brautigans liegen sah. Und das Herz begann sogleich wieder kräftiger zu schlagen. Ich konnte nicht verstehen, dass ein Autor, von dem Bücher erschienen, die mein Herz bewegten, tot sein sollte. Ich musste mich dessen wieder und wieder versichern und las den Klappentext.
Doch irgendwann war auch das letzte Buch der Werkausgabe erschienen. Da begriff ich den totalen Verlust. Mit dem Namen Brautigan verbinde ich seither zu gleichen Teilen Glück und Traurigkeit. Inzwischen hatte ich gelernt, selbst die Welt mit anderen Augen zu sehen. Meine Lebensintensität erhöhte sich! Ich spürte, dass auch in meinem Alltag ein erzählenswerter Kern steckt. Ich machte einfach nur die Augen auf. Und begann selbst zu schreiben. Mein Trostprinzip: Weil Brautigan sich wichtig nahm und zum Mittelpunkt seiner Welt machte, hat er sich offenbart und damit zugleich einen Weg gezeigt, den zu beschreiten sich lohnt (auf eine andere, eben die eigene Art und Weise). Das Geschenk meines Lebens.
1984 erschoß sich Brautigan auf seiner Farm in Bolinas, Kalifornien.Wenn ich schon keine Bücher mehr von Brautigan lesen konnte, las ich alles, was ich über Brautigan kriegen konnte. Ein Freund von Brautigan, der Dichter Michael Mc Clure hat einen Freund in Deutschland, den ich auch kenne. Der besorgte mir, was Michael Mc Clure zu seinem Freund geschrieben hatte: Brautigans Erfolg machte ihn zu einem janusköpfigen, schließlich unerträglichen und fallenden Idol, so Mc Clure. Wochenlang lag Brautigans Leiche in seinem Haus, weil niemand mehr irgendetwas mit ihm zu tun haben wollte. Ich las in den Erinnerungen von Brautigans Tochter Ianthe. Brautigans Küchenuhr ist darin abgebildet, von vielen Dutzend Einschusslöchern umsäumt... Er hatte die Angewohnheit, in seinen eigenen vier Wänden bisweilen von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Ich las bei Philippe Djian die Geschichte seines Schocks über Brautigans Tod, die im Resümee endet: Richard Brautigan ist einer der guten Gründe, das Leben zu lieben. Ich las auf der Homepage seines Fliegenfischer-Kumpels Greg Keeler (www.troutball.com) einen Haufen ziemlich horribler Anekdoten aus Brautigans letzten Lebensjahren und hörte mir unter www.brautigan.net seine schöne, seltsam juvenil glucksende Stimme an. Zudem erschienen in den letzten Jahren noch der nachgelassene, von Selbstmordthematik durchdrungene Roman Eine unglückliche Frau sowie das inzwischen aufgetauchte Frühwerk Das Geschenk für Edna Webster – die allererste Gedichte- und Geschichtensammlung. Darin stehen so frische Sachen wie Stilleben 3: Eine Bibel/ und ein/ Salzkorn.
Ich fragte und frage immer noch Menschen, ob sie Richard Brautigan kennen. Dann warte ich auf das Lächeln, dass sich auf ihr Gesicht legt, wenn sie ja sagen.
Sekunden
Wenn man bedenkt, wie wenig Zeit wir haben
zum Leben und um über was nachzudenken, dann
hab ich gerade die richtige Menge Zeit
für diesen Schmetterling
aufgewendet
20
Ein warmer Nachmittag
Pine Creek, Montana
3. September
Pine Creek, Montana
3. September
(In: Wagnis (Hrsg. Christoph W. Bauer), Innsbruck 2006.)