ich habe diesen ort entdeckt / den ort in dem der wortschatz steckt - Anmerkungen zur Verzauberung durch Sprache

Festrede zur 70-Jahr-Feier der Internationalen Jugendbibliothek am 20. September 2019


Liebe Damen, liebe Herren,

vor ein paar Jahren schrieb mich Frau Paulsen an. Sie habe gehört, dass ich Dichter geworden sei, und fragte, ob ich mich an sie erinnern könne – sie habe mir damals, in der 1. und 2. Klasse der Grundschule Kiel-Mettenhof, das Lesen und Schreiben beigebracht. Ja, doch, Erinnerungen an die blonde Frau mit dem Pagen-Haarschnitt und dem einnehmenden Lächeln stiegen in mir auf. Als wir uns nach 43 Jahren wieder trafen, hatte sie zwei Geschenke für mich: zum einen drei signierte Bücher von James Krüss, den sie mehrmals auf Gran Canaria besucht hatte, zum anderen ein Dutzend Schullesebücher aus ihren knapp 50 Jahren Berufstätigkeit. Sie wies mich auf diesen und jenen Text hin, Sprachspiele, Gedichte und Rätsel, war immer noch Feuer und Flamme für die Idee, mittels Sprache zu Einsichten, einem Lachen oder durch Enträtselung zu einem erhellenden Erfolgserlebnis zu kommen. Und während ich meine Grundschullehrerin als erwachsener Mann noch einmal ganz anders kennenlernen durfte, dämmerte mir, dass ich genau ihr vielleicht besonders viel zu verdanken habe.

Denn um Lesekompetenz zu erlangen, ist vor allem eines nötig: Feuer fürs Lesen zu entfesseln, um richtig in den Lesegenuss zu kommen; Geschriebenes, ja, das Buch als Möglichkeit zu begreifen, sich in Abenteuer zu katapultieren.

Nachdem ich die 2. Klasse absolviert hatte, zogen wir aus Kiels Trabantenstadt in ein stadtnah gelegenes Reihenhaus. Wir befinden uns Mitte der 70er-Jahre. Ich komme aus keinem bildungsbürgerlichen Haushalt. Bei uns gab es tendenziell eher wenige Bücher. Dennoch wurde ich zur Leseratte. Das hieß: Ich habe aus der Gemeindebücherei alle, wirklich alle, Die drei ???-Bücher, alle Serien von Enid Blyton (von Fünf Freunde, über Rätsel um bis hin zu Hanni und Nanni), dazu sämtliche Ratekrimis Wer knackt die Nuss? von Wolfgang Ecke gelesen; türmeweise schleppte ich Bücher heim und tauschte sie, wenn möglich, wöchentlich aus. War nicht genug von der leicht zu lesenden Serienkost verfügbar, las ich anderes: die Urmel-Bücher von Max Kruse, Preußlers Räuber Hotzenplotz, Krabat, Die kleine Hexe und Das kleine Gespenst, James Krüss‘ Leuchtturm auf den Hummerklippen, seinen faustischen Timm Thaler-Roman. Natürlich las ich alles, was ich von Astrid Lindgren in die Finger bekam, ebenso wie von Erich Kästner, später auch Michael Endes Momo und Die unendliche Geschichte – markante Wegmarken jugendlicher Leseerfahrung meiner Generation, jeder von uns kennt sie.

Zudem hilft es, wenn die Bücher nicht Robert, Tobias und das rätselhafte Flugobjekt heißen, sondern Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt. Wenn schon der Titel Sprachkraft suggeriert, so scheint sein Inhalt gleich etwas mehr zu versprechen, Boy Lornsen wusste um den Umstand. Mit 13 oder 14 Jahren hatte ich, was im Gemeindebüchereiregal unter Kinder- und Jugendbüchern stand, durchgelesen. Mit einem ratlosen Gesichtsausdruck wandte ich mich an den Bibliothekar. Da ging er mit mir zum Krimiregal und reichte mir zwei Hard-boiled-Krimis von Dashiell Hammett: Der gläserne Schlüssel und Der Malteser Falke, beide nicht ganz einfach zu lesen, fast schon Lesearbeit, doch als ich sie durchhatte, dachte ich stolz: Jetzt bin ich erwachsen – ein eigener Fernseher musste her!

Also kratzte ich mein Spargeld zusammen und kaufte mir im nahe gelegenen Großmarkt einen tragbaren Scharzweißfernseher. Stolz schob ich ihn auf dem Gepäckträger meines Damenrades nach Hause. „Den bringst du morgen zurück!“, riefen meine Eltern entsetzt. Was ich auch tat. Doch in der Nacht davor sah ich einen einzigen Film auf jener Glotze in meinem Zimmer – an sich schon ein magic moment meines Lebens: den Vincent van Gogh-Film mit Kirk Douglas und Anthony Quinn. Es war, als hätte dieser Film einen Schalter in mir umgelegt: Diese leidende Künstlerkreatur! Ich empfand enorme Empathie! Am nächsten Tag brachte ich den Fernseher zurück, kramte meine Buntstifte raus und begann mit heiligem Ernst Kunst zu machen, richtige Kunst. Und in den kommenden zehn Jahren las ich fast ausschließlich Kunstbücher, man kann sagen, ich lebte für diese Bücher, ihre Inhalte, die damit verbundene Inspiration für meine wachsende ästhetische Persönlichkeit.

Die bildende Kunst wurde zu meinem Bezugssystem. Im Alter von 19 Jahren entdeckte ich zudem die Dichtung, denn viele der verehrten Künstler schrieben ebenfalls oder hatten mit Dichtern zu tun. So begann ich selbst Gedichte zu schreiben, getreu dem punkigen Motto: Tu es einfach!

Parallel dazu wechselte ich von der kleinen Gemeindebücherei in die größere Stadtbücherei Kiel, später in die Universitätsbibliothek, um ein breiteres Bücherspektrum abgreifen zu können. Ich habe während meines Leselebens Bibliotheken immer als aufregend-anregende Refugien wahrgenommen und tue es noch heute.

Jedenfalls waren in meiner Lesebiographie eine Menge Kinder- und Jugendbücher, Kunst- und Gedichtbände. Ich erlag der Kraft der verrückten Worte, Gedanken und Geschichten. Und eben das ist es, was ich in meinen eigenen Schullesungen weiterzugeben suche: Hier möchte ich mich gar nicht auf technischer Augenhöhe mit dem Zeitgeist bewegen, im Gegenteil: Ich bin ein bekennender Vertreter der klassischen Wasserglaslesung. Das einfache Wort im Raum muss genügen. Da ich wie ein anarchischer Blitz in den Unterricht einschlage und mit meinen das Besondere ausstellenden Gedichten eine subversive Herausforderung für Lehrkräfte und Schülerschaft bin, funktioniert das. Gedichte sind ja freie Gebilde, die sich nicht allen Regelwerken unterwerfen müssen.

Gedichte, gerade auch solche, die für Kinder geeignet sind, vermitteln Autonomie, sie können zurückweisen auf den Spaß an und mit der Sprache und jedweden Sinn einfach mal hintenanstellen. Kinder verstehen das sofort, denn es knüpft an ihre vorschulisch erfahrene, natürliche Art des freien Seins und bloßen Spielens an. Im Gespräch hinterher kann ich zudem glaubhaft vermitteln, dass mich die Literatur zu einem freien Menschen gemacht hat.

Mir ist dabei klar, dass die meisten Schülerinnen und Schüler im Anschluss vielleicht nie wieder zu einer Dichterlesung gehen werden. Doch wenn es hinterher heißt, „Gedichte sind cool“, „Ich will später auch mal Dichter werden!“ oder zumindest „Es hat mir Spaß gemacht“, finde ich das einen guten Anfang, um sich mit oder ohne Lehrplan weiter mit Gedichten, mit Literatur zu beschäftigen.

Apropos Lehrplan und Praxis, hier mal einige Schlaglichter aus meiner Werkstatt: Irgendwo in einer 5. Klasse einer Gesamtschule im Herzen von Deutschland. Der Vorlesetag steht an und die Lehrerin bittet die Schülerinnen und Schüler, ein Buch zum Vorlesen mitzubringen. Die Hälfte der Klasse hat am nächsten Tag kein Buch zum Vorlesen parat – schlichtweg, weil in ihrem Haushalt keines zu finden war.

Während des darauffolgenden Schuljahrs begleitete ich genau diese Klasse. Zehn Vormittage lang beschäftigten wir uns mit Gedichten. Den größten Lacher gab es, als ich ihnen das Scherzo der lautmalerischen Ursonate von Kurt Schwitters vorspielte: rakete bee bee / rakete bee zee / rakete rinnzekete / rakete rinnzekete – die bewusstseinserweiternde Wucht moderner Lautpoesie traf die Klasse so unvorbereitet, dass sie ihr nur mit einem gewaltigen Gelächter begegnen konnten. Später dann die Reflexion: Was ist Sprache? Was ist mitteilenswert? Schließlich versuchten wir selbst ein Lautgedicht zu schreiben – und vorzutragen. Noch später sind wir ins Sprengel Museum gefahren und haben Schwitters‘ Merzbau studiert. Wie wichtig ist der Austausch zwischen Poesie und Kunst, zwischen Text und Bild, zwischen Spiel und Ernst.

Und wir haben selbst an Gedichten gearbeitet. Zwei Beispiele: Ein zurückhaltendes Mädchen schrieb folgendes Haiku: „Rot wie die Rosen / Tropfen übern Gartenzaun / Sind von Regen nass.“ Momente, in denen ich denke: Himmel, das ist ja pure Poesie. Warum? Weil in den drei Zeilen, wie Josef Guggenmos es nannte, „die Liebe zum Schlichten steckt, zu den Dingen mit einem hohen Gehalt an Schweigen.“

Auf die Frage, was ein Gedicht alles sein kann, wenn es personifiziert werden würde, schrieb der kreative Individualist der Klasse, ein Fortnite-Experte mit bilingualen Wurzeln in den USA, folgende Zeilen: „Dieses Gedicht ist wie / ein Soldat ohne Munition. / Der Gegner kommt, nimmt ihn mit, / bringt ihn zur Mutter / und pflegt ihn wie ein Kind.“ Welch wunderbares Beispiel poetischer Anarchie!

Jella Lepman, die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek, hatte nicht nur die Idee, von überall her Bücher für Kinder zu sammeln, sie trug auch, um einen originären Kinderausdruck zu präsentieren, von Kindern aus aller Welt gefertigte Selbstportraits zusammen und schickte sie 1951 auf Ausstellungs-Tournee. Sie sah in diesen Bildern das „elementar Verbindende“ einer Weltkindergemeinschaft, ja, sie erkannte darin eine übernationale (vielleicht auch überrationale?) Welt aus kindereigenen Farben, Formen und Themen, gespeist aus dem höchsten Gut der menschlichen Seele: Freiheit und Unbekümmertheit. Jella Lepman folgerte: Diese Kinderzeichnungen sind der „Ausdruck von documents humains im tiefsten Sinne – und eine Verzauberung für den, der sie zu deuten vermag.“

Dieser Satz hat mich berührt. Die Verzauberung des unbekümmerten Tuns, das schaffen Kinder von allein – das Lesenkönnen, Aufnehmen und Goutieren dieser Verzauberung bedarf wohlgesonnener Umstände. Das Leseabenteuer selbst ist einer davon. Das heilkräftige Fieber einer zunehmend persönlicher werdenden Lektürejagd ein weiterer – die physische Präsenz von Büchern dafür unabdingbar. Allein wie ein Goldgräber durch Regale zu stromern und plötzlich auf ein Buch zu stoßen, von dem man bis eben noch nicht wusste, dass es genau das ist, was man gerade braucht – also zu spüren, wie die überraschende Existenz eines Buches einem gleichzeitig eine Lücke eröffnet, um sie im selben Moment wieder zu schließen; wie kann man glauben, auf dieses Glück verzichten zu können?

Allein der Gedanke, hier in der Internationalen Jugendbibliothek auf Schloss Blutenburg von 650.000 Büchern in 240 Sprachen umgeben zu sein, die quer durch Zeit und Raum lesende Kinder und Jugendliche ab dem Mittelalter mit Impulsen versorgt haben – das eröffnet ein Kraftfeld, welches sich beim Betreten von diesem einmaligen Alexandria der Kinder- und Jugendliteratur erspüren lässt.

Machen wir uns nichts vor, das Internet, der digitale Zugriff auf Informationen, die Daddel-Elektronik und das Handy haben die Welt verändert: Die Jahrtausendwende trägt einen Paradigmenwechsel in sich – einen von derselben Wucht wie 500 Jahre zuvor der Buchdruck – mit weitreichenden Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Die Technisierung der Kinderzimmer gehört dazu. Dennoch scheint mir die Frage „Wie kriegen wir die Kinder zum Buch zurück?“ am Kern der Sache vorbeizugehen. Wichtig ist, dass Kinder, bevor sie ein Handy haben, richtig lesen und Bücher kennenlernen. Im Jugendalter werden Internet und Handy ihre große Macht entfesseln. Doch das Internet kann, wie bei mir das Fernseherlebnis mit dem Van-Gogh-Film, einen Einstieg ins Faszinosum kultureller Phänomene auslösen und damit wieder tiefer in die Welt der Bücher führen.

Denken wir nur an die Gefahr, die vor 50 Jahren vom Fernseher für das Lesen ausging – und was Jahrzehnte später, in den 90er-Jahren, passierte: Weltweit harrten tausende Kinder stundenlang vor Buchhandlungen aus, bis es endlich Mitternacht wurde, um den ersehnten nächsten Harry Potter-Band in die Hände zu bekommen. Die ganz Verrückten fingen direkt im Buchladen mit dem Lesen an. Was ich sagen möchte, ist: Die digitalen Verlockungen verändern zwar unser Denken und Handeln, doch es wird immer Bedürfnisse geben, in denen ein konzentrierter und vertiefender Einstieg in ein Thema oder in die schiere Narration überragend genug ist, um zum Buch zu greifen. Das objekthafte Ding Buch bewirkt den intimen Offline-Moment, der uns im Alltag, in der Forschung, im Urlaub oder in Lebensnotlagen ermöglicht, dass wir uns in einer geistigen Parallelwelt ausbreiten; sei es, um in ein Fachwissen möglichst umfassend einzudringen oder Geschichte anders zu erfahren als im Schulunterricht, sei es, indem man ein paar Tage lesend einem Schicksal folgt.

So wie für Jella Lepman die internationalen Kinderzeichnungen, oder einen Kreis weiter gedacht, Kinderbücher aus allen Zeiten und Sphären der ganzen Welt, sichtbare Zeugnisse für das „elementar Verbindende“ einer Weltkindergemeinschaft waren – und es bis heute sind –, so gibt es Inhalte und Themen, welche die Kraft haben, Zeitläufte und Welträume zu überdauern – diese Inhalte und Themen behandeln stets den Wunsch nach und die Angst vor Veränderungen.

Ich denke an Erich Kästners Die Konferenz der Tiere, an Lindgrens Die Brüder Löwenherz, an Orwells 1984 oder Animal Farm, an Salingers Der Fänger im Roggen, an Wolfgang Herrndorfs Tschick, an Anthony Burgess‘ Clockwork Orange, auch an die Bücher von Hermann Hesse, an Kafkas Verwandlung oder an Melvilles Moby Dick oder Stevensons Schatzinsel – Beispiele aus der Weltliteratur, immaterielles Weltkulturgut, Bücher, die über Generationen hinweg junge Menschen begeistern, verstören und nachdenklich machen, kurz: die helfen, dass sich ein kritisches Bewusstsein bildet.

Wir brauchen dieses kritische Denken, damit in Zukunft überholten Strukturen begegnet und entschieden genug entgegengetreten werden kann – wie wir es heute von Jugendlichen auf der Straße bei der Fridays for Future-Bewegung erleben. Jede neue Generation macht Mut, und dieser alte Hut ist immer auch ein neuer Hut: die Heilserwartung an die nachwachsende Generation auf eine versöhnlichere, friedlichere und ökologisch befriedetere Welt.

Die betuliche Art, mit der Erwachsene jungen Menschen gern begegnen, empfinde ich dabei als hinderlich. Wer sind wir, dass wir glauben, uns über Kinder erhöhen zu dürfen, nur, weil wir erwachsen sind. Picasso hat mal gesagt, er habe sein ganzes Leben gebraucht, wieder malen zu lernen wie ein Kind. Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen: lernen, das tägliche Sein wieder wahrzunehmen wie ein Kind. Alles wie zum ersten Mal sehen lernen. Das Selbstverständliche als etwas Ungewöhnliches begreifen, das Ungewöhnliche als etwas Selbstverständliches – und damit seine Lebensintensität erhöhen.

Kritisches Bewusstsein ist gefragt in einer zunehmend komplexer agierenden Welt, in der natürliche Ressourcen ausgebeutet, Menschen unterschiedlich behandelt werden, sich die Realität mit der Virtualität zu vermengen droht, in der globale Konflikte von nationalistischen wie irrational agierenden Herrschern geschürt werden, in der auf institutioneller Ebene vieles, was mit Literatur und Kunst zu tun hat, von fachfremden Entscheidungsträgern in den Verwaltungen zensiert, marginalisiert und missverstanden wird. All dies sind Entwicklungen, welche die Welt in ein dunkleres Fahrwasser ziehen. Hier gilt es Lösungen, Hauptwege und Nebenwege zu entwickeln, die vielleicht heute noch undenkbar sind. Und genau an diesem Punkt kommt die Literatur ins Spiel – als eine potentielle Ideenerweiterungsmaschine, als eine subversive, überholte Strukturen zersetzende – oder verlorene Strukturen regenerierende – Kraft wird sie, daran glaube ich fest, gebraucht.

Wo ansetzen? Ich denke: so früh wie möglich. Und ich denke: so breit wie möglich. Wir holen alle ab, wir nehmen alle mit. Denn wendiges Denken ist ein hohes Gut, welches im Schulkontext – wenn schon nicht im Mittelpunkt stehend, so doch punktuell durch Begegnungen mit Kunst und Literatur – einen unverrückbaren Stellenwert haben sollte. Die Kinder- und Jugendliteratur bildet hier das Rückgrat.

Literarische Initiation entwickelt sich weitgehend in der Kindheit und Jugend. 64% der sich im Kernlesealter befindlichen 6- bis 13-Jährigen haben 2018 in der Umfrage zum Leseinteresse von Kindern in Deutschland ausgesagt, dass sie gerne lesen. Doch für alle heißt es Angebote setzen, welche Schülerinnen und Schüler zum Nachdenken anregen und vielleicht übers Lachen ins Staunen bringen. Warum die Dinge eigentlich so sind, wie sie sind – und wie wir sie verändern können. Nicht ohne Grund galt im antiken Griechenland das Staunen als Ursprung der Philosophie.

Literatur, ja Poesie als kürzeste literarische Form, kann das Durchspielen von Unmöglichkeiten quasi im Zeitraffer erledigen und somit einen aufklärerischen Ansatz ermöglichen. Der Wert eines Gedichts bemisst sich meines Erachtens darin, dass es Grenzen erweitert und motiviert, in Phänomene einzusteigen, die wir noch nicht bedacht haben. Weiter denken, weiter hinaus denken, ja eigenständig denken lernen – in der Kunst, der Literatur, auch in der Kinder- und Jugendliteratur ist die Freiheit zu entdecken, die wir in unserer leistungsorientierten Gesellschaft zunehmend weniger verkörpert sehen.

Unsere eigenen Kinder sind mit den Kinderliedern Fredrik Vahles auf Autofahrten groß geworden, Liedern, die im Rahmen der antiautoritären Studentenbewegung entstanden, „wo das Kinderlied für eine kurze Zeit eine wichtige Gattung für die politische Agitation, für die Bewusstseinsveränderung, für die notwendig erachteten Denkanstöße“ galt. „In diesem Kontext wurde es häufig überladen“, sagte Fredrik Vahle Jahre später, „es wurde unbeweglich und konnte nicht ankommen. Die damaligen hohen Erwartungen wurden bekanntlich nicht erfüllt.“

Und doch ist es positiv zu bewerten, dass stets aufs Neue der Versuch gemacht wird, einen erhellenden Aufbruch, wie wir ihn auch jetzt wieder erleben, mit Kindern und Jugendlichen zusammenzudenken; Kinderlieder, Gedichte, Erzählungen gehören ganz natürlich dazu. Nonsens unbedingt inklusive! Denn Lachen ist mehr als ein Selbstzweck: Lachen befreit aus zu engem Mief, gerade auch aus dem eigenen. Die Sprache öffnet uns dafür alle Türen (nicht nur die zum Verstehen der Abi-Textaufgaben in Mathematik!) – auch die größte: die zu uns selbst. Denn mehr kann einem das Leben nicht geben, als möglichst nah und bewusst an seinen eigenen (im besten Fall leuchtenden!) Kern zu geraten. Das ist der Dreh, der zeigt, was Literatur – gerade auch Literatur für junge Menschen – kann: Grenzen sprengen, sie erweitern, das Eigenste mit dem Entlegensten zusammenbringen oder anders gesagt: unseren begrenzten Horizont ans große Ganze anbinden. Hier hängen wir am Tropf der Metaphysik und wittern ins Offene hinaus, was unserem Sensorium mehr Weitsicht verleiht als der Blick von einem Fernsehturm. Und da ich hier für den poetischen Moment spreche, möchte ich meinen Beitrag mit einem Gedicht enden lassen:

der wortschatz

in deinem kopf
da ist ein ort
an dem versteckt sich
wort für wort

ich habe diesen ort
entdeckt
den ort in dem der
wortschatz steckt

und wenn du sprichst
hör ich dir zu
denn wunderworte
zauberst du

du sprichst von
ätschibätschi glitzerflummi
kuddelmuddel
zickzack
von ballaballa doppelmoppel
flitterkram und
flickflack
von kinkerlitzchen tingeltangel
techtelmechtel
ticktack
von wischiwaschi larifari
halligalli
hickhack
von wunderplunder kuschelwuschel
remmidemmi
schnickschnack

dein wortschatz er sprudelt
mir worte hervor
die worte sie glänzen
und glitzern im ohr