Abgehoben, erdverbunden - Dada füllt den Hohlraum mit Schönheit und Gelächter

Vortrag im Hans Arp Museum Bahnhof Rolandseck am 22. März 2016

Gestern noch war ich ein normaler Teenager, meine Gedanken waren erfüllt von schulfreier Zeit, dem Höhenflug des HSV, dem Beobachten von Sumpfvögeln vor unserer Reihenhaustür; ich sammelte Fossilien, Briefmarken, angelte Hechte, las die BRAVO, hörte Kiss und AC/DC; 1980 erstickte Bon Scott an seiner eigenen Kotze, ich hängte mir das Bon Scott-Abschiedsposter aus der Pop/Rocky an die Zimmertür und heute? Heute spürte ich, dass etwas Neues in mir keimte, ja, vielleicht segelte mich eine Art Sehnsucht nach Autonomie an, schließlich hatte die Schulwelt ihre Daumenschrauben abermals angezogen und ich war ein schlechter Schüler, dem eben grad das Mitlaufen gelang. Ich war 14, einer der Schlusohren der Mittelstufe, faul und irgendwie immer hinterher. Jedenfalls kratzte ich mein Spargeld zusammen, radelte zum nahe gelegenen Großmarkt und kaufte mir auf eigene Faust einen tragbaren Schwarweißfernseher. Den schweren Karton schob ich stolz wie ein Triumphator auf dem Gepäckträger meines Damenrades in unsere Reihenhaussiedlung. Meine Eltern rasteten aus: „Den bringt´s du morgen zurück!“ hieß es mit vielen Ausrufezeichen; doch da ich den Fernseher nun schon mal ausgepackt hatte, beschloss ich, wenigstens den einen Abend in meinem Zimmer der Souveränität zu frönen, bevor ich das Gerät anderntags wieder abgeben und mich ins familiär-patriachale Dreiprogrammfernsehen zurückfügen musste.

Ich sah im ZDF den Spätfilm „Vincent van Gogh – ein Leben in Leidenschaft“ mit Kirk Douglas und Anthony Quinn. Die vom Schauspieler Douglas mit Verve ausgefüllte Figur des van Gogh, diese leidende Künstlerkreatur, schlug mich sofort in ihren Bann – dass etwas im Menschen stecken konnte, das raus wollte, ja, raus musste, und dass dieser Drang im Dienst einer höheren Sache lag, die niemand verstand, für die man aber bereit war, alles hinzugeben, schlichtweg, weil sie einen erfüllte - - war eine so große Verheißung für mich, dass sie einen Schalter in mir umzulegen verstand.

Am nächsten Tag brachte ich den Fernseher zurück in den Laden, kramte meine Buntstifte heraus und begann so frei es mir möglich war, mit heiligem Ernst zu zeichnen. Ich spreche nicht vom Ab- oder Nachzeichnen, nein, ich versuchte aus meiner Vorstellung heraus etwas aufs Papier zu bringen. Zudem wechselte ich das Regal in unserer Gemeindebücherei: von den Krimis zum Kunstregal. Fortan würde ich die nächsten zehn Jahre ausschließlich Kunstbücher lesen. Van Gogh, natürlich. Doch es dauerte nicht lange, da bewegte ich mich von van Gogh ausgehend, lesend und betrachtend weiter in die Moderne hinein: Picasso selbstverständlich, Kubismus, dann die erste Boygroup der Moderne, die Futuristen. Sie gefielen mir, denn sie waren laut, wild und malten spektakuläre Bilder (etwa Ballas „Hundeleine in Bewegung“) – ein Aufruhr von explodierender Dynamik, zugleich auch ein Rausch an Vitalität, brechender Farben, springender Syntax - - irgendetwas war so passend verschoben, dass es sich viel richtiger anfühlte als im vorherigen An-Ort-und-Stelle-System - ich schlug das Wort „Synästhesie“ im Wörterbuch nach… jedenfalls dauerte es nicht lange, ich war vielleicht 16 Jahre alt, bis ich bei DADA ankam – und ich merkte sofort die Wirkungstreffer, die von dieser Kunstrichtung auf mich ausgingen.

Der Künstler Christian Schad (heute vor allem als bedeutender neusachlicher Maler im kollektiven Gedächtnis) sagte: „Unbelastet von allem zu sein, war die Größe von Dada.“ Und vielleicht war es mein Glück, dass ich eine gute Einzelkindheit hatte und, ohne es recht zu merken, das kostbare Unbelastetsein vor mich hertrug wie einen Schild, einen Schatz. Ich begann also Dada zu rezipieren und es war Liebe auf den ersten Blick, eine Art mentaler Befreiungsschlag, der alles (auch mein Schlechtsein in der Schule) plötzlich relativierte. Dada, kann man sagen, öffnete mir die Augen. Ich verstand, dass es auf eine gewisse Weise in Ordnung war, nicht erwachsen werden zu müssen, denn ich wollte schon damals mit der Welt der Erwachsenen nichts zu tun haben. Hell brannte der der systemzersetzende Gedanke, nach dem Motto: Jetzt ist nicht die Stunde der Vollendung, jetzt ist die Stunde der Zerstörung – der Zerstörung vorgedachter Schablonenlebenswege – und Harmonien zerstören heißt immer auch kreatives Potential freisetzen. Im Kunstunterricht der Schule war ich nun einer der Schlechtesten; überhaupt, die Schule geriet mir zunehmend zu einem Nebenschauplatz, war nicht mehr so wichtig. Ich spürte: Was wirklich wichtig war, das trug ich in mir. Ich musste es nur irgendwie angebohrt kriegen.

Der Kunsthistoriker und Germanist Juri Steiner hat Dada als „so etwas wie die Pubertät der Kunst“ bezeichnet - - als eine aufstampfende Kampfansage an die rationale und oft so tödlich kalte Welt der Erwachsenen, ein großes Leck-mich-doch. Dass ich während meiner Pubertät mit einer pubertären Kunstform nur konform gehen konnte, liegt nahe. Dieser Umstand legitimierte mir einen Weg, der den inneren Abstand zu meinen Eltern und den zum auf Normierung ausgerichteten Schulsystem problemlos größer werden ließ. Sie verstanden mich nicht mehr? Nun, ich verstand mich selbst nicht! Und schon gar nicht die Mechanismen dieser doch letztlich auf Ausbeutung und Mitlaufen ausgerichteten Welt! Im Übrigen wollte ich mich auch gar nicht mehr verstehen, viel lieber wollte ich in den Abgrund hinein schauen, der allen Menschen inne wohnt und also auch in mir ist – und ihn durchleuchten lernen. Die Mehrdeutigkeit der Zeichen trat in mein Leben. Tristan Tzara hat es in seinem „Manifest Dada“ von 1918 so benannt: „Vernichtung der Logik, Tanz der Ohnmächtigen der Schöpfung: Dada: Vernichtung des Gedächtnissen: Dada: Vernichtung der Zukunft: Dada.“

Natürlich las ich alles, was ich kriegen konnte, William S. Rubins Dada-Buch gab einen guten Überblick zum Start. Die politische Dada-Fraktion in Berlin interessierte mich nicht sonderlich; allein auf der richtigen Seite zu stehen ist mir für die Kunstrezeption schon immer zu wenig gewesen, derlei kann man im politischen Diskurs ausfechten. Vor allem die Zürcher Dada-Auswüchse erregten meine Aufmerksamkeit – für mich noch heute der heiße Kern von Dada; die bunt zusammengewürfelten Kriegsverweigerer, welche zur rechten Zeit am rechten Ort eine ästhetische Revolution anzuzetteln verstanden. Hugo Balls überschwängliches Resümee zum Cabaret Voltaire kommt mir heute wie eine Art Fingerabdruck meines Gehirns vor: „Ein undefinierbarer Rausch hat sich aller bemächtigt. Das kleine Kabarett droht aus den Fugen zu gehen und wird zum Tummelplatz verrückter Emotionen.“

Wie DADA mochte ich der Sprache der Erklärung nicht vertrauen – und das ist bis heute so geblieben; selbst wenn ich die Sprache der Erklärung für diesen Vortrag als eine Krücke nutze, ist mir die offene, bunte Gedankenwelt mit den losen Enden, kurz: die Poesie, immer näher am Nabel alles Wesentlichen. Egal was ich tat, ich setzte nie auf die Alleinherrschaft der Ratio; käme ich mir dabei doch vor, als würde ich beim Pferderennen alles auf nur ein Pferd setzen. Und hinterher gehst du nach Hause, deine Hosentaschen sind leer und deine Zeit ist abgelaufen. Ich hielt mich lieber an die Spinner, Künstler, Aussteiger, Freaks und Loser – vertraute der Kraft einer irrationalen Ordnung, dem viel in sich aufnehmenden Bauchgefühl.

Der Dada-Kosmos war mir eine Art mystische Urerfahrung – und auch wenn ich hinterher viele andere Epochen bis zur Jetztzeit rezipierte (etwa den mich ebenfalls prägenden Underground der 60er und 70er Jahre) und auch heute noch die Kunst-Zeitschrift monopol in der Badewanne liegend von vorn bis hinten durchlese, so ist Dada doch die entscheidende Wegmarke für meinen inneren Kompass geblieben. Anarchie, Verweigerung, Freiheit, Offenheit (im Sinne von etwas offen stehen lassen können!), Witz – letztlich der entscheidende Wesenszug, das Neue immer wieder zu ermöglichen.

Ich glaube, Dada ist mehr als eine Kunstrichtung, es ist eine Geisteshaltung, eine radikale Geste, die verändern will. Dada zeigt bis heute, dass die Kunst ein Ausweg sein kann: die Idee von Dada ist ja weiter gegangen: denken wir nur mal Fluxuskunst mit ihren Happenings in den 60er Jahren, die Punkbewegung der 70er, das Slackertum eines Kurt Cobain in den frühen 90ern oder heute an einen die „Diktatur der Kunst“ skandierenden Künstler wie Jonathan Meese, oder die Hip-Hop/Elektropunk-Gruppe Deichkind mit ihren Pyramidenköpfen und der dadaesken Bühnenshow, oder an Lady Gaga (allein in ihrem Künstlernamen ist ja schon lautmalerisch die Nähe zu Dada angelegt) - - Deutschlands Top-Dadaistin Emmy Hennings schrieb vor knapp hundert Jahren an ihren Mann Hugo Ball: „Ich möchte die größte Verwandlungskünstlerin meiner Zeit werden“ - - gut 60 Jahre später wurde es dann der Rockstar David Bowie, dessen androgynes Spiel in seiner Rolle als Ziggy Stardust wiederrum nicht weit weg ist vom androgynen Spiel Marcel Duchamps, der 1921 unter dem Pseudonym Rrose Selavy den Sprung über die Geschlechtergrenzen wagte – und also bleibt der Geist von Dada. In immer neuen Gewändern spüren die kreativen Kräfte jeder Generation aufs Neue den Wunsch, Bestehendes zu sprengen, Chaos und Widerstand zu schaffen, den Reset-Button zu drücken. Damit etwas Unverbrauchtes daraus erwachsen kann.

Für mich ist Dada ein Statement für die Autonomie von Kunst; dafür sich eben nicht von irgendwelchen Gutmenschen oder korrekten politischen Strömungen eingemeinden zu lassen; Dada hat mich allergisch gegen jede Art von Systematisierung gemacht – nie könnte ich auf einer Demonstration mitlaufen und habe es zeitlebens auch noch nie getan und werde es auch nie tun. Nie könnte ich Mitglied einer Künstlergruppe oder Gewerkschaft sein. Viel lieber feiere ich mein inneres Unangebundensein und bleibe Luftikuss und Wirrkopf in Personalunion. Da ich zudem immer (das ist eine dichterische Berufskrankheit) annehme, dass das Gegenteil genauso richtig ist, habe ich Mühe, mir Meinungen zu bilden – die Argumente gegen das vordergründig Richtige oder Erwartbare fallen mir stets viel eher vor die Füße, denn natürlich: In jedem Richtig oder Falsch steckt eine Anmaßung. Mir ist anhand von Dada aufgefallen, dass es eine viel gründlichere politische Nachhaltigkeit bedeutet, dass es also viel politischer ist, OHNE politische Attitüde vor der Brust daherzukommen. Das verlängert die Haltbarkeit aller Statements ungemein. Und ich finde, Kunstwerke sollten für eine potentielle Ewigkeit angelegt sein. Oder anders gesagt: Im Elfenbeinturmbau zu Babel steckt noch immer eine große Provokation - - und ich persönlich liebe genau diese Provokation… Aus diesem Grund halte ich mich komplett aus dem politischen Diskurs heraus und lasse mich vom großen Leck-mich-doch Dadas durch mein Leben tragen.

Und dann wurde ich Vater und wieder Vater und etwas veränderte sich in mir, in meinem Leben: Ich musste Verantwortung übernehmen, musste aus Gründen der gemeinsamen Lebenserhaltung (ich könnte auch sagen: wegen der Geldsache) wieder vermehrt mitspielen im System und mich dahin gehend professionalisieren, dass ich ausreichend Einkommen von meiner Kunst, vor allem der Dichtkunst generieren konnte. Ein Zwiespalt spielte sich in mir ab, den ich bis auf weiteres wie folgt zu regeln versuche: Ich lebe ein kleinbürgerliches Leben und stehe dazu, halte mich so gut es geht fern von allen Schrecken unserer Gesellschaft: den Spielen der Statussymbole, der Geld- und Machtgeilheit, dem religiösen Irrwitz, dem sozialen Druck, laufe fernab aller Moden in meinen Opa-Klamotten umher, meide Widerstände und suche Harmonien - - bin dafür allerdings in der Nacht umso rücksichtsloser am Schreittisch, gern mit Alkohol und meinem kleinen Nervengift, der Zigarette. Alles dreht sich nurmehr um die Poesie, den Funkenschlag, den dunklen Abgrund, der, das spüre ich, die Quintessenz meiner Lebensader zu berühren versteht.

An diesem Punkt geriet mir der Dichter Hans Arp zum Patron, an dessen poetischer Klaviatur ich mich bis heute abarbeite. Nehmen wir seine expressionistischen Beschwörungen von Weltenchaos und Apokalypse: „Zum Schluss sind wir alle Konvertiten die mit der größten Geste eines brennenden Tragöden im Purpurmantel eingehüllt uns in die singende Flamme des Nichts stürzen“ - - sozusagen die feinen seismographisches Schwingungen des kommenden Erdrutschs.

Nehmen wir die zersetzende Ironie aus „Der Vogel Selbdritt“: „seine büste wird die kamine aller wahrhaft edlen menschen zieren doch das ist kein trost und schnupftabak für einen totenkopf“.

Nehmen wir das assoziativ-experimentelle: „warum die lerchen zigarren rauchten / warum die dochte der pflanzen leuchteten / warum die schwefelberge und schwefelflöhe mit lodernden inschriftenbändern flammenwagen voll aschestädten und glimmenden zundersäulen rauchend aus dem wein emporstiegen“.

Oder nehmen wir das streng Strukturierte seiner Nonsensverse im „Pyramidenrock“: sie mieten sich die steine / die räder in den gliedern / die gliedersteine rollen / das aug in augenlidern“.

Mir gefällt es, wie Arp den großen Worten sein süßes sphärisches Klingeln beigibt. Allein in seinen wundersamen Komposita steckt schon etwas „All-verbindendes“; hier geht es ums große Ganze, bleibt dennoch spielerisch und – warm. Anders etwa als bei Ernst Jandl sucht man das Ätzend-Zersetzende in Arps Worten vergebens. Dafür findet man das Luftige der Worte ohne Anker, lässt sich davontreiben ins diffus Blühende einer biomorphen Abstraktion. Das Zulassen der unscharfen Ränder, das Ausschalten der Ratio, dem Hingeben an einen Duft (ja, diese Gedichte duften!), überhaupt das Zulassen des Unbewussten – ohne es zu psychologisieren, bzw. zu instrumentalisieren (wie es später die Surrealisten taten) – ist wohl die fruchtbarste poetische Methode überhaupt. Die Künstlerin Louise Bourgeois bringt die vorteilhafte Seite dieser Methodik auf den Punkt, wenn sie sagt: „Ich folge dem Unbewussten. Einen Vorteil hat das. Ich irre mich nie.“ – Arp galt Hugo Ball als „der ausgekochteste Obskurantist“; er, so Ball, „kenne die Komplikationen, gebe sich aber nicht mit ihnen ab“ - - Arp verschärft das Geheimnis, macht es leicht und einladend.

Mir gefällt außerdem, wie Arp stets neue Variationen von Vorhandenem schuf, Variationen, welche er widerherum als eigenständige Werke empfand, ja, er soll bisweilen seine Texte in so unleserlicher Handschrift in den Satz gegeben haben, dass sich der Setzer selbst zum kreativen Akt genötigt sah.

Das Aus-der-Hand-geben einer eigenen Schöpfung hat mit dem Ernstnehmen der Autonomie des Moments zu tun, dem künstlerischen Bedürfnis, sich von sich selbst (with a little help from my friends) überraschen zu lassen, um etwas aus sich heraus lernen zu können – und sich nicht nur am Bekannten abzukauen. Letztlich geht es neben dem Zulassen ums Offenhalten. Hier liegt ein irrer Moment der schöpferischen Methodik: auf der Suche nach dem Wesentlichen zu sein – und eindeutig die Mehrdeutigkeit der Zeichen zu finden.

Während meines nächtlichen Schreibprozesses denke ich oft an die unleserliche Handschrift von Arp, denn ich benutze die Methodik vom anderen Ende her kommend, in ähnlicher Weise. Ich nenne es das kreative Verlesen; d.h. vom Alkohol bereits leicht vernebelt verstärke ich meine Eigenschaft, ein huschiger Rezipient und flüchtiger Denker zu sein dahingehend, dass ich auf der Suche nach anregenden Wendungen aktives Verlesen betreibe und mich der wüsten Schweiflektüre hingebe: Anstelle der Schlagzeile „Die Welt als große Wundertüte“ lese ich beispielsweise „Die Welt als große Wundertitte“ – in der lustvollen Verschiebung gerät jedweder Ausblick bunter, das Kaleidoskop ist geöffnet.

Was passiert im Moment der nächtlichen Entgrenzung? Ich sehe nurmehr Dinge, die ich sehen will, denke wild, will das Dichtung ein Alles wird, ein Alles ist und alles eint und also sinke ich ins Bermuda-Dreieck aus Wahrheit und Geheimnis. Es gibt zwei Arten von Dichtern. Die einen suchen in ihrer Dichtung Wahrheit kund zu tun. Andere suchen in ihrer Dichtung dem Geheimnis nachzugehen. Und obwohl zwischen dem die Welt erklärenden Mythos und dem die Welt verschleiernden Mysterium diametrale Entfernungen liegen, ist Dichtung immer ein beide Pole Einendes. Allein die Tatsache der Veröffentlichung, der Vervielfältigung eines Gedichtes sorgt dafür, dass dasselbe immer wieder erzählt wird – und sich das Gedicht, egal welche Sprachmysterien es transportiert – selbst mythologisiert; anders herum sehe ich kein größeres Fragezeichen als hinter dem vermeidlichen Wahrheitsgehalt all dessen, was die Welt zu erklären versucht; ein Statement (wie dieses) ist in unserer Welt per se ein Mysterium - - Mythos und Mysterium sind die Schwingen der Dichtung mit dem sie sich vom Boden der vermeidlichen Gegenteile empor schwingen. Niemand hat das besser verstanden als der Dichter Hans Arp. Entsprechend hoch ist die Quote an singendem Blau in seinen Gedichten.

Doch Hans Arp war nicht nur Dichter. Als Grenzgänger zwischen Bildender Kunst und Dichtung ist er mir besonders nah. Seit jeher fesselt mich der Dreh zwischen Text und Bild – das ist formal mein großes Thema und natürlich studiere ich immer wieder Positionen, welche sich in diesem Spannungsfeld bewegt haben. Schreibt nicht Paul Klee die schönsten Bildtitel? Wenn ich aus Gründen der Selbstdisziplinierung zum Schreiben in der Kieler Universitätsbibliothek sitze und mir nichts mehr einfällt, gehe ich ans Kunstregal und nehme mir einen der dicken Werkkataloge von Paul Klee hervor. Ich blättere wahllos darin herum, betrachte die kleinen Schwarzweißabbildungen und lese verwundert ob der poetischen Sprachkraft in den Titeln. Denn erst der Titel überführt die Bildwelt in einen frappanten metaphysischen Entrückungszustand. Das, was man gemeinhin als Poesie bezeichnet, nämlich dass von dem Bezeichneten eine sich der Sprache entziehende oder über sie hinaus gehende Wirkung ausgeht, wird dabei von der Bildebene symbiotisch zum Blühen gebracht, man spürt in unserer heute an Spiritualität so armen Zeit beim Abgleich von Titel und Bild bei Paul Klee eine Art kleinen Stromstoß, welcher vom existentiellen, ja spirituellen Geist seiner Text/Bild-Wechselwirkung herrührt. Das erinnert mich an die große Mission der Poesie, der Sprache ihren Zauber wieder zurückzugeben. (Der witzige Provo-Künstler der 1980er Jahre, Martin Kippenberger, hat es mit der Methode der schneidend frechen Bildtitel zur Veredelung mittelmäßiger Arbeiten ganz im Sinne Dadas, zu einem der ganz Großen der aktuelleren Kunstgeschichte gebracht.)

Auch für Hans Arp sind die Disziplinen Text und Bild miteinander verwoben. Stichwort: suggestive Bildtitel. Harriett Watts schrieb: „Arp erklärte einmal, dass das Erfinden eines solchen Titels für ihn oft wichtiger geworden sei, als das Werk selbst, denn Wörter konnten für ihn plastische Dimensionen annehmen.“ Dazu Arp: „Wörter hatten für mich immer etwas Frisches an sich, sie bewahren ein Geheimnis. Ich gehe mit ihnen um wie ein Kind mit seinen Bausteinen. Ich betaste und biege sie, als wären sie Skulpturen. Ich verleihe ihnen ein plastisches Volumen, das unabhängig von ihrer Bedeutung ist.“ Wer Skulpturen von Hans Arp betrachtet hat, weiß, dass es sich lohnt, das Schild mit dem Titel zu lesen. „Muschel und Kopf“, „Das ruhende Blatt“ oder „Vogelskelett“ weisen zurück in die Welt – und durchaus auch in die Welt der Poesie, abgehoben und erdverbunden zugleich.

Und obwohl Hans Arp diese großartigen Kunstwerke gefertigt hat, für die er heutzutage global gefeiert ist und welche unter merkantilen Gesichtspunkten zu einem wahnwitzig großen Geschäft geworden sind – freut es mich, dass er auf die Frage, wie er sich entscheiden würde, wenn er zwischen seiner Kunst und der Dichtung wählen müsste, antwortete: Er würde es vorziehen, ein Dichter zu sein. - - Vielleicht freut es mich deshalb, weil die Dichtung noch freier ist als die Kunst, zumal sie nie zur Handelsware werden kann. Man denke nur an den schottischen Dichterkünstler Ian Hamilton Finlay, dessen Kunstwerke mit seinen Dichtungen auf Augenhöhe liegen – und was heute, nach seinem Tod, getan wird, um das Geschäft mit den Kunstwerken am Laufen zu halten (einiges von einigen Galerien nämlich) und was getan wird, um seine Dichtunst in die Welt zu tragen (kaum etwas – weil es sich nicht lohnt, bzw. immer ein Zuzahlgeschäft bleiben wird).

Sowohl in der Bildenden Kunst, als auch in meiner Dichtung verfolge ich meine künstlerische Zwei-Punkte-Programmatik. Zum einen: das Kleine groß machen – zum anderen: Dinge zusammenbringen, die nicht zusammen gehören. Das Wechseln zwischen den Disziplinen ermöglicht mir eine andere ästhetische Wirkmacht. Wenn ich tagelang auf der Suche nach passenden Worten auf ein virtuelles Blatt Papier gesehen habe, sehne ich mich danach, mit einem Tacker auf einem bunten Haufen Papier-, Papp- und Plastikmüll zu sitzen, darin nach passenden Fetzen umherzufischen und diese unter den Händen zusammengetackert explodieren zu sehen. Allein die Form der Rezeption der Ergebnisse, meint: das schlichte Betrachten: Bevor die Reflexion einsetzen kann, macht es BÄNG! im Kopf.

Zudem gibt es sprachliche Randbereiche, in denen das Sehen dem Lesen auf die Sprünge hilft. Die Rede ist von visueller Poesie. Die Idee, das Wort vom Papier zu befreien, es buchstäblich in den Raum zu holen, also groß, vielleicht sogar gewaltig (sodass man sich davor ganz klein fühlt) an Wänden wirken zu lassen, ist mir deshalb wichtig, weil sich auf diese Weise Wort und Bild im Kunstraum verbinden können – die unmittelbare Wortmacht so weiter mäandern kann und eben eine räumliche Qualität entfesselt. Wort und Bild können eins sein, waren die Dadaisten im Cabaret Voltaire von Anfang an überzeugt. Wenn man sich mal einen Abend im Programm des Zürcher Cabaret Voltaire vergegenwärtigt, so ist vor allem der genresprengende Mix auffällig: Lieder, Gedichte, Tänze, Kostüme, Puppenspiele, Manifeste, Druckwaren und Kunstwerke verbanden sich zu einer Art großem Gesamtkunstwerk. Ich glaube, dieser verbindende Kleister ist das große Vermächtnis von Dada. Das große Leimen. „Collagen sind Dichtung mit bildnerischen Mitteln“ sagt Hans Arp. Oder anders herum: Was sind Gedichte anderes als Collagen? Sie können gar nichts anderes sein, denn sie nehmen Ausschnitte der (Sprach)Wirklichkeit und verbinden sie. Das Prinzip der Collage ist Dada pur – das vielleicht wirkmächtigste Prinzip des 20. Jahrhunderts: immer wieder: Dinge zusammenbringen, die nicht zusammen gehören.

Wie ich las, verspürte Hans Arp in seinen späteren Werkphasen vermehrt den Wunsch nach Dauer. Hier kamen ihm seine skulpturalen Arbeiten in Marmor, Bronze und anderen Materialien entgegen. Das ist ein Aspekt, den ich bei Arp nicht unerwähnt lassen möchte, denn neben seiner sprachlichen Verzauberung kann man sich in seiner formal reduzierten bildkünstlerischen Arbeit der Kontemplation hingegeben; einer biomorphen Kontemplation, welche nicht viel braucht, um an die edle Einfalt und stille Größe anzudocken – an eine Rückanbindung ans Natürliche. Hier wird nicht mehr skandiert, hier wird meditiert. Etwas Stilles betritt die Bühne; ähnlich einem Einwortgedicht, welches sich der Alltagssprache entzieht.

Der Autor Sebastian Frenzel hat neulich in der monopol-Zeitung anhand aktuell erschienener Lektüren die Quellenlage zum aktuellen Ästhetikdiskurs ausgewertet – er kommt zum Ergebnis, dass heutzutage zwei Ästhetiken um die progressiven Impulse der Gegenwart buhlen. Zum einen das Krasse, welches ziellos und unpolitisch ist (sieht man mal von Protestkunstgruppen wie Pussy Riot ab ( = eine Art Dada Berlin von heute)). Denn unsere fordernde Positivgesellschaft evoziert das Groteske, eine Ästhetik des Desasters – welche sie in Frage stellt.

Demgegenüber dröselt Frenzel die entsprechende Gegenrichtung auf, welche zur „Errettung des Schönen“ aufruft, wie es der Autor Byung-Chul Han in seinem gleichnamigen Buch vorstellt – hier geht es um die glatte Ästhetik des digitalen Zeitalters: Jeff Koons, I-Phone, Brasilian Waxing – das schöne Glatte verdeckt den Bruch.

Überkultiviertheit als Haltung, als Gegenbewegung zum Krassen, das süße, schrullige des sogenannten „Twees“ - - wie wir ihn aus Filmen von Wes Anderson kennen. Allein die in Frenzels Artikel folgende Aufzählung dessen, was einen „Twee“ ausmacht, erstaunte mich: Vorzug des Schönen vor dem Hässlichen / Verbindung zur Unschuld der Kindheit / Misstrauen gegenüber der Erwachsenenwelt / Überfeines Gespür für Grausamkeit, das Böse, den Tod / Hang zur Güte / liebevolle Sorgfalt und Fetischisierung von (glatten) Objekten / kein Zynismus, keine Ironie / Ablehnung der Habgier des Kapitalismus - - klingt das nicht wie eine Charakterisierung der Programmatik von Hans Arp?

Nachdem ich diese Punkte verinnerlicht hatte, wusste ich, warum mir Hans Arp immer schon näher war, als die agitativer und programmatischer auftretenden Tristan Tzara oder Richard Huelsenbeck. Das hat mit dem Warmen, Weichen, Soften in seinen Arbeiten, seinem Wirken zu tun – eigentlich simulieren Arps Arbeiten Übergänge, Stadien des Morphens, weisen uns darauf hin, dass alles, unser Weltgebaren, in Bewegung ist. Dass sich die Versinnbildlichung der Bewegung in kaltem hartem Marmor manifestiert, ist einer der süßen Widersprüche, welche die Welt des Krassen und Glatten etwas besser macht.

Beim großen Krieg vor hundert Jahren machte Dada nicht mit – warum, denke ich heute, sollte ich dann beim kleinen Krieg unserer Leistungsgesellschaft um Macht und Statussymbole mitmachen? Lieber bleibe ich ein Spieler und lerne durchs Spielen, lasse mich von Ozzy Osborne anwehen: „I´m a dreamer – I dream my life away“ – und bleibe ein ewiger Treppenläufer im Elfenbeinturmbau zu Babel.

Im Nachhinein ließe sich meine Hinwendung zu Dada möglicherweise psychologisch deuten: nämlich, dass ich während meiner Coming of age-Phase enttäuscht war, weil ich spürte, dass die Erwachsenenwelt mir nicht das geben konnte, was ich zu brauchen glaubte – eine Form der mich erregenden Spriritualität fand ich erst in der Kunst.

Was ich irre finde ist, dass ich dabei als freier Dichter und Künstler ziemlich deckungsgleich mit dem neuen Geist des Kapitalismus bin, wie er von Luc Boltanski niedergelegt wurde. Seine Erfolgsgaranten entsprechen meinen Faktoren für Erfolg: a) ich bin autonom b) ich bin spontan c) ich bin mobil d) ich bin verfügbar e) ich bin kreativ f) ich bin plurikompetent und verfüge g) über die Fähigkeit, Netzwerke zu bilden - - dies alles gilt ebenso für meine künstlerische Ausrichtung; ich bediene diese Ausrichtung, damit ich mein künstlerisches Programm fahren kann: nämlich das, keines zu haben (mal von meinen beiden oben dargelegten Minimalprinzipien abgesehen). Für mich gilt weiterhin, mich auf der Suche nach dem Nicht-Erwartbaren dem zweckfreien Spiel hinzugeben, dabei innerlich bei mir zu bleiben, zu versuchen, in mich hinabzusteigen, um zu gucken, was da ist: sicherlich nichts Klares, Ganzes, sondern etwas Diffuses, das zwischen Schönheit und Gelächter im Dunkeln changiert; ein warmer poetischer Kern mit Leucht- und Zerstörungskraft, auf den ich mich zubewege. Ich dichte mich am eigenen Munde zugrunde in einer Bewegung, der ich mich mein Leben lang verschrieben habe.