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Konkrete Poesie für Kinder und Jugendliche – eine SpurensucheAls die Konkrete Poesie in den 50er und 60er Jahren ihren internationalen Siegeszug begann, hatte sie sich einige Neuerungen auf die Fahnen geschrieben – Eugen Gomringer bringt diese in seinem Vorwort der stilprägenden Reclam-Sammlung „konkrete poesie“ (1972) auf folgende zwei Punkte: „eine abkehr von gewohnten poetischen vorstellungen“, verbunden mit „dem versuch, gegenwart unmittelbar sprachlich festzustellen“. Gedichte wurden rational und methodisch. Auf der einen Seite kam das einem Ellenbogencheck gegen sphärische Sprachzauberer à la Rilke plus Epigonen gleich – auf der anderen Seite schwang auch ein sprach- und gesellschaftkritischer Gestus in der Bewegung mit: Durchs Blümchenfeld der Poesie wurde die Autobahn der Moderne gelegt. Und auch wenn die konkrete Poesie im gegenwärtigen Lyrikdiskurs nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt, ist es ihr zu verdanken, dass wir heute figürlichen Gedichten, konzeptuellen Gedichten, poetischen Permutationen sowie Text-/Bildcollagen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit begegnen.
Es ist bekannt, dass es immer einige Zeit dauert, bis aus progressiven poetischen Strömungen kanonisierbare Literatureinheiten werden. Und so hat es die Konkrete Poesie nach Umwegen über herausragende Anthologien und passende didaktische Zugriffen schließlich auch in die Hausbücher und Schullektüren geschafft. Ad hoc fallen mir 2 + 3 konkrete Gedichte ein, denen ich beim Lesen (auch in Kindergedichtesammlungen) immer wieder begegnet bin. Das sind, quasi als Vorläufer der poetischen Richtung, Christian Morgensterns Gedichte „Der Trichter“ und „Fisches Nachtgesang“. Und dann als Flaggschiffgedichte der Konkreten Poesie: Das unverwüstliche Apfelgedicht von Reinhard Dörl. Eugen Gomringers „schweigen“. Und Hans Manz´ Gedicht „Achterbahnträume“. Jeder, der gern Gedichte liest, kennt diese fünf Gedichte, weil sie heute zum Kanon der deutschsprachigen Lyrik gehören. Diese fünf Texte versinnbildlichen exemplarisch die Idee vom Bildgedicht, vom konzeptuellen Gedicht sowie die (spielerische) poetische Umsetzung von Zeichen in gesprochene Worte – wie sie heute im SMS/Whats app-Kontexten für Jugendliche selbstverständlich geworden ist (2G4U = to good for you).
Das Besondere an diesem und ähnlichen Gedichten ist der originäre Zugriff auf das geschriebene, bzw. gesprochene Wort. Gerade im Schulkontext hat die konkrete Poesie einen wichtigen Part zu erfüllen, denn Kinder lesen Bilder, bevor sie Worte lesen. Wenn dann die Worte als Bilder daherkommen, so ist das erhellend für beide Seiten: Von den Bildern lässt sich etwas über die Worte lernen – von den Worten etwas über die Bilder: Die konkrete Poesie generiert sozusagen die Verstärkung der Zeichen und funktioniert somit als Denkverstärker, als ein Ausrufezeichem hinter allem Bedeutsamen. Eben deswegen sind die Werke der Konkreten Poesie ja gerade in der Vermittlung bei Kindern und Jugendlichen so beliebt.
Meine ehemalige Grundschullehrerin Frau Paulsen trat eines Tages an mich heran und schickte mir, inzwischen Rentnerin, all die Schul-Lesebücher, mit denen sie von den 60er Jahren bis in die 2000er hinein gearbeitet hat. Ich blättere sie durch, um ein Gefühl dafür zu bekommen, ob die Konkrete Poesie im Laufe der Zeit aus der Lektüre-Empfehlungsliste für Kinder zum Ausschleichen gebracht wurde. Ja, sie ist nicht mehr so präsent, wie in den 70er Jahren, nein, sie ist heute keinesfalls Vergangenheit, wie auch Blicke in die aktuellen Kinderlyrik-Sammlungen des rennomierten Herausgebers Hans-Joachim Gelberg beweisen. Die alten Bekannten finden sich wieder und manch ein der konkreten Poesie entlehntes Konzept kommt im neuen Gewand daher. Bis heute kommt die Konkrete Poesie als Teil des großen Sprachspiels zur Geltung. Wenn sie heute nicht mehr so omnipräsent ist, wie noch vor einigen Jahrzehnten, so weil ihre Lektionen inzwischen angekommen sind. Man hat vertanden: Wer will, darf sich der Formen bedienen, um sein eigenes Buchstabensüppchen zu kochen.
Der große Wert, den die Konkrete Poesie auf den formalen Aspekt legt, ist, so der Vorwurf, zu Lasten des Inhalts und der Sinnlichkeit gegangen. Nehmen wir nur mal den Klassiker von Eugen Gomringer „schweigen“ – so ist das Gedicht von seiner konzeptuellen Anlage her von einem zen-haften Minimalismus; man muss sich auf die Leere einlassen – eine Einladung zur Meditation: Aus dem Wenigen, das man beim Lesen/Betrachten bekommt, etwas Großes im Geiste zu machen und damit das kleine Gedicht immer größer werden zu lassen, das erfordert dem Leser einiges ab. Auch sind die Bezüge diffus: alles und nichts ist im Schweigen enthalten – kurz: Gomringers kleines Gedicht zeigt auf, dass in der Sprache (und im Denken) etwas Grenzenloses steckt. Dass diese Aussage mittels einer so minimalen und klaren Struktur vermittelt wird, ist eines der typischen Paradoxa, aus welchem die Lyrik ihre Kraft generiert.
Die Konkrete Poesie hat mit ihrem untersuchenden Minimalismus allem Kitsch in der Lyrik den Kampf angesagt. Heutzutage, mit dem Abstand einiger Jahrzehnte, zeigt sich, dass man in Gedichten auch wieder reimen, raunen und erzählen darf. Nehmen wir nur mal die beiden gegenwärtig gefeiertsten Dichter deutscher Sprache: Durs Grünbein und Jan Wagner – beide erzählen in ihren Gedichten, vermitteln Bildungsgut und Sinnlichkeit in ihren konventionell scheinenden Gedichten, reflektieren offen in ihren Gedichten, reimen ihre Gedichte. Und das ist natürlich okay, warum sollten sie das nicht tun dürfen? Ich halte nichts von zielsetzenden Manifesten, dem Erlauben von diesem, dem Verbieten von jenem. Diese Zeiten sind vorbei, heute ist alles möglich und das gefällt mir. Ich bin ohnehin der Meinung, dass es überhaupt keine programmatische Ausrichtung beim Dichten geben sollte. Wichtig ist nur, dass im Gedicht etwas Ungesagtes übrig bleibt – das uns dazu verführen kann, aus dem Unsagbaren etwas Sagbares zu machen.
Der Fächer verführender Möglichkeiten der Poesie – mein Credo ist: ich gehe immer dahin, wohin mich meine Ideen haben wollen. Deswegen habe ich für mich geklärt, dass es mein Programm ist, keins zu haben. Bevor ich anfange, ein Gedicht zu schreiben, überlege ich nicht, ob es gereimt oder ungereimt, ein Gedicht für Kinder oder für Erwachsene werden soll. Das ergibt sich alles von selbst. Ich schreibe das Gedicht einfach so, wie ich es will, bzw. wie es mir widerfährt (denn Gedichte schreiben hat bis zu einem gewissen Grad auch mit einem intellektuellen Kontrollverlust zu tun). Und hinterher stelle ich dann vielleicht fest: Dieses Gedicht könnten auch Kinder mögen.
Mein Kopf ist voll von wilden Gedanken und ich liebe die Idee der Überraschung, welche sich beim Lesen eines Gedichtes einstellen kann. Kinder mögen das. Also feiern wir bei meinen Lesungen das anarchische Denken. Was für die einen vielleicht nur Klamauk sein mag, ist für andere ein Weg, über das Lachen den Einstieg in die Reflexion zu finden. Also nutze ich alle Mittel und Möglichkeiten, welche die Poesie zu geben hat, um zu experimentieren, zu spielen, etwas Neues zu probieren oder etwas Altes zu beleben.
Natürlich gehören für mich die Mittel der Konkreten Poesie zu meinen poetischen Ausdrucks-Möglichkeiten, und ich nutze sie mit Begeisterung. Reihungen, Vokalabfolgen, konzeptuelle, minimalistische und verbildlichte Gedichte sind in meinem Repertoire und entsprechend auch in die Kindergedichtbände und Schulbücher gewandert. Mich befeuert die Vorstellung, Kindern und Jugendlichen in einem Schulbuch einen Text zu kredenzen, der auf einer ganz anderen Ebene funktioniert als bloß auf der zu erwartenden Semantischen. Meiner Meinung nach ist das essentiell, weil auf diese Weise gezeigt wird, dass im Rahmen der Sprache, des Textes, des Denkens immer mehr möglich sein kann, als wir uns vorstellen. Ein probates Mittel gegen Engstirnigkeit. Und weil es immer leichter ist, etwas Neues zu lernen, als etwas Gelerntes wieder aufzugeben, kann man Kindern besonders gut mit den vielen Spielarten der Poesie begegnen. Denn das Nachdenken über ein Gedicht, welches sich vielleicht nicht bis ins Letzte auflösen lässt (und damit weiterhin bedenkenswert = lebendig bleibt) ist exemplarisch für das Nachdenken über das Leben und dessen Sinn (der sich nicht bis ins Letzte auflösen lässt).
Die Poesie darf in der Schule ruhig Lust erwecken, zauberhafte Fragezeichen entstehen zu lassen. Denn nur Kraft seines Weiterdenkens kann der Mensch sich den kommenden Zukunftsproblemen stellen. Also denken lernen! Konkrete Poesie setzt genau da an. Allein der Ausbruch aus dem gewohnten Schriftbild fesselt sofort unseren Blick.
Erschienen in: Buch & Maus 3/17, Schweizerisches Institut für Kinder - und Jugendmedien Zürich.