Beyond Melancholia
- Gedanken zur Schönheit des Traurigseins -Der kürzlich verstorbene Kieler Dichter Hans-Jürgen Heise hat einen seiner Gedichtbände „Heiterkeit ohne Grund“ genannt. Obwohl ich sehr vergesslich bin, habe ich diesen Titel nicht nur sofort im Gedächtnis behalten, sondern ihn überraschend in passenden und unpassenden Situationen bei mir. So auch, als ich den Ausstellungstitel las: „Beyond Melancholia“. Was geht über die Melancholie hinaus, was liegt jenseits der Melancholie? Etwa „Heiterkeit ohne Grund“?
Natürlich gehe ich, das ist eine Berufskrankheit des Dichters, immer davon aus, dass das Gegenteil genau so richtig ist, was einen Behauptungssatz wie diesen ganz schnell überflüssig macht. Das Gegenteil von Heiterkeit ohne Grund ist eine tief begründete Traurigkeit. Diese aufzubringen, dürfte uns Menschen nicht schwer fallen. Zum einen hat uns niemand gefragt, ob wir auf diese Welt wollen – und trotzdem sind wir da; zum anderen sind wir die einzigen Geschöpfe der Erde, die wissen, dass sie sterblich sind. Auf diesen Schmerz der Vergänglichkeit, üblicherweise eine Begleiterscheinung oder ein Nachleuchten auf besonders herzenswarme Lebensmomente, könnte man gern verzichten. Glaubt man auf den ersten Blick. Auf den zweiten Blick wird offenbar, dass sich gerade in der Wehmut, der melancholischen Seelenlage ein Quell der Kraft versteckt – und diese Kraft gehört zur ganz natürlichen Grundstimmung des Menschen. Man erinnere sich an den alten barocken Trick, als die Verheerungen und Seuchen, welche im Europa des 17. Jahrhunderts ganze Landstriche entvölkerten, zum Vanitas-Kult und damit zum Carpe diem führten: im Wissen des unerwartet zuschlagenden Schicksals zu einer Feier der Blühwilligkeit; beruhend auf der Erkenntnis, die Blumen, welche heute blühen, mögen morgen bereits welk sein: also wenn schon Blumen, dann bitte sofort Blumen – und zwar die schönsten!
An diesem Punkt möchte ich eine Brücke ins Hier und jetzt schlagen. Denn nur zu gern lassen sich in unserer heutigen Spaßgesellschaft die schönsten Blumen im übertragenen Sinne ausmachen. Die allerdings ohne existentielle Rückkopplung betrachtet werden; wenn Fragen nach dem dunklen Abgrund (an welchem sie am schönsten blühen) aufkommen, werden diese einfach wegkonsumiert. Metaphysisches Leuchten kommt dabei nicht auf. Die Diktatur des Glücks lässt wenig Raum für unglückliche Empfindungen; besser man schaut mit einem Lächeln in RTL II-& Co-Dokusoaps auf die, die in der Bedürfnispyramide unter einem stehen, sieht sie in ihrem bizarr verrutschen, zur unserer Unterhaltung hininszenierten Überlebenskampf und freut sich heimlich über die Distanz zu „denen“. Message: So schlecht geht es uns doch nicht – und ab geht’s an den Heimcomputer, um sich im Warenfächer bei Amazon zu verlieren oder bei Ebay um nicht benötigte Schnäppchen zu pokern. Und die Werbung als kapitalistisches Heilsversprechen manipuliert und suggeriert die passenden Bedürfnisse drum herum, was dazu führt, dass viele Menschen heute wie emotional behindert wirken; sie wissen kaum mehr, wo sie herkommen und wo sie hingehen, wo ihre wirklichen Bedürfnisse liegen, welche Fragen und Ängste zum Menschsein gehören. Alles Nachdenkliche scheint aus ihrem Leben verbannt, die Beziehungen in Jenseits gekappt und auch der fernen, ja nahe Zukunft, Stichwort globale Ökokatastrophe, stehen viele nahezu gleichgültig gegenüber. Es herrscht der Hyperaktivismus der Turbomoderne, der Imperativ der Ratgeberliteratur: Sieh alles positiv! – und blende den Rest aus! Damit einher gehen Umwertungen: Schmerzvermeidung ist angesagt, weil der Glaube vorherrscht, Schmerz ist ein Zustand, der nichts bringe. Dabei sind es gerade auch Phasen des Schmerzes, der Verzweiflung, des Nicht-mehr-weiter-Wissens, des Misserfolgs, aus denen die neuen starken Ideen erwachsen, die einen weiter bringen. Stattdessen ist es populär geworden, die Melancholie mit der Depression gleichzusetzen – und damit die Schwarzgalligkeit abzuwerten. Ein fataler Irrglaube: denn während die Depression als Krankheit erlebt wird und somit unerwünscht ist (man leidet darunter, kann sich ihr nicht entziehen) – ist mit der Melancholie doch etwas anderes gemeint: ein Hintergrundrauschen des Weltschmerzes nämlich, aus dem heraus sich eine grüblerische Stimmung entwickelt; eine Stimmung, aus der man aus eigener Kraft auch wieder aussteigen kann; während der Depressive eine nach innen gerichtete Einsamkeit empfindet, sucht der Melancholiker das Alleinsein, um sich einer offenen, nach außen gerichteten Stimmung hinzugeben. Oder wie es der Philosoph Wilhelm Schmid auf den Punkt bringt: „Die Melancholie weitet die Seele, die Depression engt sie ein“.
Fürs Machen von Kunst ist der Blick in den Abgrund unverzichtbar, denn erst wenn man bereit ist, beide Seiten, die Helle und die Dunkle, zu durchdringen, lässt sich ein gewisses Maß an Vollständigkeit im Denken erspüren. Wer das Unglück nicht kennt, kann auch das Glück nicht kennen; denn alle Zustände werden nur als solche überhaupt fassbar, wenn wir das Gegenteil mit erfahren.
Für mich heißt das: Es genügt, sich im sozialen Leben schon all den Regeln des Positivismus zu unterwerfen, Entgegenkommen zu zeigen, höflich, korrekt und harmoniesüchtig zu sein, zu wissen, was man will. Das muss man nicht auch noch in der Kunst haben. Gerade in der Kunst, der Dichtkunst ermöglicht das Zulassen eine formale und stilistische Vielfalt, die aufzufächern und zu nutzen lohnt und die, um selbsterfundene Formen, Bilder, Inhalte erweitert, sich noch lohnenswerter gestalten lässt. Einbrüche ins Dunkle, Ungesagte inklusive.
„Man lebt ja nicht, um reich zu werden, sondern um Dinge möglich zu machen“, summierte der legendäre Ausstellungsmacher Harald Szeemann. Der „Seelenschmetter“, wie man den melancholischen Zustand in der Schweiz nennt, zerstört möglicherweise etwas, ermöglicht aber auch ein variantenreiches Zusammenbauen des zerschmetterten Stückwerks, aus welchem sich die eigene Persönlichkeit von einer anderen, neuen Seite konstituiert; ich muss da an das chinesische Legespiel „Tangram“ aus dem 8-4. Jhd v. Chr.denken: wo sich aus sieben eckigen, geometrischen Puzzelteilen neben den wesentlichen geometrischen Grundformen, Tiere, Menschen, das Alphabet, ja eigentlich die gesamte Weltsymbolik nacherschaffen lässt: vom schwarzen Reiter zum schwarzen Quadrat. Was ich sagen möchte, ist: Eine gewisse Zerrüttung, ein gewisses Maß an innerer Zertrümmerung ist nötig, damit etwas Neues entstehen kann; der Zusammenbruch aller gegensätzlicher Kategorien, ja, die Vermeidung aller festlegbaren Bedeutung ist, was fasziniert und erschreckt – Künstler erscheinen da nicht selten als Entgegengesandte, welche sich erkühnen, lebendig ins Totenreich eingedrungen, die Grubenlampe in den menschlichen Katastrophenbereich hineingehalten zu haben, Grenzen verloren, aufgelöst zu haben, sich auf Glattseis begeben zu haben, daneben zu liegen, die alten Konstanten verlassen zu haben. Es gilt die Fragen zuzulassen, auszuleuchten, die uns mit unserer Endlichkeit konfrontieren. Gerade hier und heute, wo wir aufgeklärten Geister uns von Kult und Ritus abgeschnitten haben, wo kaum mehr wirklich spirituelle, religiöse oder schamanenhafte Erfahrungen gemacht werden. Hier kommt dem Kunstraum eine besondere und sehr wichtige Aufgabe zu: denn in ihm gedeiht ein Schutzraum mit, welcher ad hoc existenzielle Erfahrungen ermöglichen kann, überraschend hinter der nächsten Ecke, von einer Sekunde auf die andere sozusagen. Kunst macht man allein. Und Kunst rezipiert man auch allein. Über Bande wird hier quasi ein existentielles 1:1 gespielt – stellen Sie sich den schönen Schock vor, wenn ahnungslose Besucher des Völkerkunde-Museums, welche Aufklärung über den Menschen im Wandel von Zeiten und Räumen erwarten, sich plötzlich mit Kunstwerken von hier und/oder heute - und den damit unmittelbar ungelösten Erschütterungen der modernen Lebenswelt konfrontiert sehen. Was für eine wundervolle und heilsame Rückkopplung - - wenn die zeitgenössische Kunst hier in den Räumen des Völkerkunde-Museums ihre Hand ausstrecken darf, um uns in der heutigen Zeit abzuholen und ins menschliche große Ganze, welches uns an kaum einem Ort wie diesem mehr anfährt, mit hineinzuziehen. Man kann nicht anders, als die Endlichkeit unserer Epoche dabei mit zu suggerieren.
Und die Melancholie erscheint in diesem Spiel als minimaler Nenner in der maximalen Erweiterung der Wahrnehmung. Der melancholische Künstler hat mehr als einen Runterzieh-Effekt zu geben: Indem er seine Schwermut in die Außenwelt projeziert, in dem er versucht, hinter die Dinge, die Ereignisse zu schauen, weitet er sich sozusagen aus: mit Worten, Farben, Formen, Tönen – und generiert so Empathie und Tiefgang – was zu Nächstenliebe, Selbstliebe, Mitgefühl führen kann, kurz: was sensibel macht. Ich spreche von der wunderbaren Leichtigkeit der Traurigkeit, davon, was es bedeutet, wenn man wieder mal, wie der Rheinländer sagt „das arme Tier bekommt“: Der kurzzeitige Rückzug in einen selbst hinein hilft, Dinge hinterher wieder klarer sehen zu können, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, aufmerksamer auf die innere Stimme zu hören, sensibler zu sein für Stimmen und Stimmungen anderer Menschen.
In meiner Dichtungsarbeit begebe ich mich fast jede Nacht auf die einsame und auch heilsame Reise in mich selbst – und wenn ich anfange, weiß ich nie, wo ich am Ende rauskomme. Oft in der Natur. Erstaunlich oft bin ich mit meinen Gedanken auch bei meiner 94-jährigen, noch lebenden Großmutter, einer einfachen, arbeitssamen Frau, die offnen Augs ihrem Ende entgegen sieht – und in der sich Erkenntnis und Lebensweisheit in einer Art sammeln, dass sie mir eine melancholisch stimmende Inspiration ist.
Rede Im Hamburger Völkerkunde-Museum zur Ausstellung "Beyond Melancholia", Sammlung Reinking am 15.6.2014.