Helden der Kindheit: Pac-Man
Er ist die Antwort auf den Smiley, der vor 1980 bloß in die Welt hinauszulächeln verstand. Dabei ist er selbst eine Art gesichtsloser Smiley, allerdings im Profil – und sehr gefräßig. Genaugenommen besteht dieser gelbe Kreis lediglich aus einem Mund, der auf und zu geht, weil er nurmehr eines signalisiert: Hunger! Man fühlt sich plötzlich aufgerufen (ganz anders als in der realen Welt) eine gesichtslose Hungersnot zu stillen. Dabei befindet man sich (ganz genau wie in der realen Welt) in einem Labyrinth.
Überall im Pac-Man-Labyrinth liegen hübsch gleichmäßig Punkte ausgestreut, die somit keine Fährte mehr sein können, nein, sie sind Futter – Futter für den Weltgeist Pac-Man. Denn Pac-Man hat nur eine Aufgabe: Das Labyrinth zur Wüste zu machen, indem er es leer frisst (gleich dem Menschen in der Welt). Damit das gelingen kann, überträgt Pac-Man sein Schicksal an einen Spieler-Denmiurgen (der realen Welt). Dieser kann ihn fortan über den Joystick mit vielen Richtungswechseln durchs Labyrinth bewegen und er wird genau das tun, denn mit jedem von Pac-Man im Labyrinth gefressenen Punkt bekommt man ebenfalls Punkte auf einem (nicht realen) Konto gutgeschrieben. Ab und an findet sich im Labyrinth gar eine Kirsche oder ein anderes Symbol, das Extrapunkte einbringt.
Und was passiert, wenn das ganze Labyrinth leergefressen ist? – Nun, dann kommt man (wie im realen Leben) nicht etwa aus dem Labyrinth heraus, nein, man kommt ins nächste Labyrinth, das genauso aussieht und funktioniert wie das eben verlassene. Und täglich grüßt die Ausweglosigkeit; allein im nächsten Labyrinth geht es noch etwas härter und schneller zu. Das ist traurig, das ist hart. Hier darf die Metapher fürs Leben Spiel sein und man spielt mit und in ihr.
Damit es in dieser Unmenschlichkeit wenigstens etwas humaner zugeht, als oben geschildert, haben sich die japanischen Spielemacher eine perfide Besonderheit ausgedacht: Sie erschufen, immer den angestrebten Markt der weiblichen Spielerinnen im Blick, ein paar niedliche, im Gegensatz zum gesichtslosen Pac-Man nahezu menschlich wirkende Monster. Die Aufgabe dieser niedlichen Monster ist es, Pac-Man/den Spieler im Labyrinth aufzuhalten, ja auszulöschen. Aus diesem Grund trennen und bewegen sie sich gemächlich durchs Labyrinth auf Pac-Man zu. Haben die niedlichen Monster Pac-Man gefangen, ist Schluss mit dem Labyrinth-Hopping. Immerhin: Drei Leben hat der gelbe Puck, sich in seiner persönlichen Endzeit zu bewegen. Der Soundtrack dazu macht alarmsignalmäßig woo-woo-woo und wagga-wagga-wagga. Witzig, aber auch seltsam ist die Idee, dass Pac-Man einige große Punkte im Labyrinth fressen kann, wodurch die niedlichen Monster sich blau verfärben und für eine kurze Zeitspanne selbst von Jägern zu Gejagten werden.
Was will einem Pac-Man sagen? Pac-Man bekämpft das Absurde mit absurden Mitteln. Damit ist Pac-Man das passende Spiel der Post-Beckett-Ära und es vermittelt mustergültig dessen Botschaft: nämlich mikroskopische („Es ist ja nur ein Computerspiel!“) und heitere („Irgendwie witzig!“) Apokalypsen zu schildern, aus denen es kein Entrinnen gibt. Denn es gibt darin, wie in Becketts Stücken auch, keine komplexen Gesellschaftverhältnisse mehr, sondern lediglich schlichte, digital animierte Über-und Unterordnungsverhältnisse. Zu ertragen ist die existentialistische Klarheit natürlich besonders gut, weil sie verniedlicht und minimiert, quasi mit einem Diminutiv versehen, als Computerspiel daherkommt.
Dennoch ist Pac-Man die Idee eines großen Fressers; Pac-Man ist so tot wie lebendig, er ist heillos, zeitlos, ein Verkünder der Endzeit. Pac-Man ist das wahre Endspiel: einem Schach-Endspiel gleich, wo ein paar mechanische Wahrscheinlichkeiten eine Partie zwingend beenden können. Pac-Man ist eine Figur der absoluten Reduktion; Pac-Man kennt das „Schwarze Quadrat“ von Kasimir Malewitsch, Pac-Man kennt die Readymades von Marcel Duchamp, Pac-Man kennt den Minimalismus der 60er Jahre, die glatten Oberflächen der Pop-Art - - und genau wie bei den Paten aus der Kunstgeschichte zieht Pac-Man aus seiner Verkündigung des absurden Endspiels seine Kraft, sein Überleben – bis heute (eine Vollversion für das iPad kostet jetzt, Anfang 2013, bei iTunes stattliche 4,49 €!).
Und wir? Wir kennen den wohligen Masochismus inzwischen, der uns den eigenen Bankrott kredenzt. Wir applaudieren! Oder, wir werden, einfach nur so aus Spaß, zu Pac-Man und spielen ein bisschen mit und in dem Szenario, erspielen uns unsere eigene Ausweglosigkeit.
In der virtuellen Spiel- und Spiegelfläche steckt ein ironischer Gestus, der sich aus der Spannung von Identischem und Nichtidentischem speist. In Becketts Endspiel sagt Hamm: „Die Natur hat uns vergessen.“ Ihm entgegnet sein Counterpart Clov: „Es gibt keine Natur mehr.“ Darauf Hamm: „Keine Natur mehr! Du übertreibst!“ Das ist natürlich gerade auch in Hinsicht auf den unnatürlich-natürlichen Pac-Man lustig. „Wo aber Gott nicht ist, wächst die Komik auch!“, schreibt Goedard Palm (dem ich an dieser Stelle für seine von mir hier frech ausgeschlachtete Beckett-Analyse herzlich danke).
Das Beckett´sche Gelächter hat sich nach den gescheiterten Utopieentwürfen der 60er und 70er Jahre in einer aufkeimenden Nullbock-Generation zwar virtuell (und damit en miniature) aber doch flächendeckend ausgebreitet. Pac-Man wurde für viele nicht nur zum Vorboten eines Jahrzehnts der Entpolitisierung, der aufkommenden Spaßgesellschaft – Pac-Man wurde auch zum Symbol des Übergangs von einem Labyrinth ins nächste, von der Industrie- zur Informationsgesellschaft: unterbrochene Höhenflüge (Challenger) und diffundierende Gegensätzlichkeiten (an der Ost/West-Grenze) inklusive. Will uns Pac-Man nicht auch sagen, dass sein auswegloser Charakter gar nicht so schrecklich ist, weil der Mensch in der Spiel-Erfahrung des von ihm beseelten Endzeit-Szenarios erst wieder zum Menschen wird? Wohl kaum. Dafür ist ein Computerspiel nicht groß genug. Allerdings zeigt Pac-Man, dass die Unterscheidung von „Ernst“ und „Spaß“ gemeinhin Benennungs-Gepflogenheiten folgt, welche überholt sind und ausgehebelt gehören. Dass das ausweglose Leben in seiner Absurdität noch immer komisch ist, zeigt uns der gefräßige Pac-Man nach wie vor in seiner Labyrinthwelt.
(Pac-Man, in: Helden der Kindheit - aus Comic, Film und Fernsehen (Hrsg. Andrea Baron und Kai Splittgerber), Edition Büchergilde Frankfurt am Main, Wien und Zürich 2013.)