Über Sinnlichkeit
Auf dem Fahrrad streift
Ein Schmetterlingsflügel mein
Frisch rasiertes Kinn.
Ein Schmetterlingsflügel mein
Frisch rasiertes Kinn.
Sinnlich sein heißt: mehr spüren (als andere). Sich spüren heißt: zu merken, dass man lebt. Und leben, das will man bitteschön so intensiv wie möglich. Je griffiger die Welt aus Stoff und Form um einen herum, desto größer das „Ich-bin-Gefühl“; die Welt in ihren Eigenschaften und Veränderungen wahrzunehmen, ist schließlich Sinn unserer Sinne. Die dafür entwickelten Organe sind so etwas wie Antennen für Veränderungen, sie weisen auf Gefahren oder leicht zu ergatternden Genuss hin – plus darauf folgendem Endorphin-Ausstoß - - ein Jaaa geht durch den Körper, ein Schaudern vielleicht oder wenigstens ein Griff nach dem nächsten Stück Schokolade. Aus körperlicher Sicht kann man sagen: Wir sind in der Lage, uns unsere Drogen selbst zu machen. Doch die Welt wäre nicht die Welt, gäbe sie uns jederzeit von allem, was wir zu brauchen glauben. Der Genuss trägt einen klebrig süßen Januskopf; man betrachte nur zwei Liebende, die leidend via Skype kommunizieren: sie sehen und sie hören sich, nur fehlt das Warme, das Weiche, das Streichen über dein Haar…
Natürlich sind sinnliche Empfindungen nicht nur Selbstzweck. Das Verwöhnen der menschlichen Sinne in Form von Zärtlichkeit, Essen, Musik, anregender Lektüre oder Kunst trägt zur positiven Stimulanz bei. Nur wozu? Zum einen, um die Zeit zu vergessen, damit einem die elementarsten Fragen des Lebens (Warum so? Warum ich? Warum nicht für immer?) nicht dauernd vor Augen stehen. Zum anderen, damit aus dem „Begreifen der Welt“ ein Erkenntnisgewinn folgt, welcher seinerseits fruchtbar in einem selbst oder anderen fortzuleben in der Lage ist; Kunst hilft dabei, denn es gilt, das Instrumentarium der Sinne so scharf wie möglich zu halten: Wer feingliedriger empfindet, hat einen weiter geöffneten Fächer von Möglichkeiten, Formen des Seins empfangen zu dürfen.
Das Wechselspiel von Sinnlichkeit und Verstand ist ein weites Feld, welches nur zu gern beackert worden ist. Manchmal, wie im Fall von Konfuzius, sogar mit Humor: „Nie habe ich einen gesehen, welcher der Tugend mehr ergeben war, als der Sinnlichkeit.“ Auch Goethe konnte einen freundlichen Blick wider die Indoktrination des Verstandes aufbringen: „Der sinnliche Mensch lacht oft wo nichts zu lachen ist. Was ihn auch anregt, sein inneres Behagen kommt zum Vorschein.“ Kant hingegen hebt mahnend den Finger: „Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“ Natürlich müsse man sich dafür „in seiner Gewalt haben“, sein sinnliches Ich „unterwerfen“ und überhaupt: möge der Verstand „herrschen“. Kommen wir zur dunklen Seite der Macht: der sinnlichen Gefahr. „Töte deine sinnlichen Begierden durch Arbeit ab“, rät Tolstoi störrisch (wissend ums Geheimnis: Liebe deine Arbeit!). Denn klar ist auch, dass sinnliche Zügellosigkeit den Menschen zum Egomanen machen kann und damit für die Sozialisation, welche gegenseitigen Austausch als Frischluftzufuhr benötigt, unbrauchbar erscheinen lässt. Reden wir nicht lange drum herum: Wer seine Sinne zu ausschweifend verwöhnt, gerät in die Nähe der Todsünden. Der dämmert bloß mehr dumpf dahin, im Rausch erfüllt vom Selbst, der eigenen Herrlichkeit.
Doch noch einmal zurück zur Sinnlichkeit. Aufschlussreich ist die etymologische Wanderung des Wortes: vom im Mittelhochdeutschen noch mitkonnotierten „Sinn“ (das starke Verb „sinnen“ zeugt davon) zollt der Begriff heute unserer übersexualisierten Gegenwart Tribut. Gibt man ihn in die Synonym-Suchmaschine Thesaurus ein, spürt man bei folgenden Vorschlägen den Endpunkt der Wortwanderung: Lüsternheit, Schamlosigkeit, Schlüpfrigkeit, Unsittlichkeit, Unzucht, Schmutz, Unflat. Des Menschen stärkster Trieb, so scheint es, dient nicht nur der Arterhaltung, sondern auch der Hinfälligkeit. Wie sinnlich darf ich also sein? Ich persönlich plädiere dafür, so sinnlich wie möglich zu bleiben, Sinnlichkeit jedoch als scheues Tier zu verstehen, den groben Reizen feine beizumengen und dem ewigen Yin und Yang aus Hingabe und Hinnahme die Gewissheit abzutrotzen, dass selbst auf die scheinende Sonne Eros eine blaue Stunde folgt. Die Erfindung der Poesie und eine gute Flasche Wein werden uns zu retten haben.
Katalogtext, in: NETZ, Vom Spinnen in der Kunst, Kunsthalle zu Kiel, Kerber Verlag Berlin 2014