Emmy Hennings: Flugversuch im großen Raum


Ätherstrophen

Jetzt muss ich aus der großen Kugel fallen.
Dabei ist in Paris ein großes Fest.
Die Menschen sammeln sich am Gare de l´Est
Und bunte Seidenfahnen wallen.
Ich aber bin nicht unter ihnen.
Ich fliege in dem großen Raum.
Ich mische mich in jeden Traum
Und lese in den tausend Mienen.
Es liegt ein kranker Mann in seinem Jammer.
Mich hypnotisiert sein letzter Blick.
Wir sehnen einen Sommertag zurück …
Ein schwarzes Kreuz erfüllt die Kammer …

Vor gut hundert Jahren, irgendwo im brausenden Berlin: Eine Frau hat sich mit Äther weggeschossen und verspürt das Bedürfnis, die Welt zu umarmen. Um ihren Rausch auszudrücken, genügen drei Strophen à vier Zeilen. Leerezeilen zwischen den Strophen sind unnötig, schließlich offenbart sich der Rauschzustand am eindrücklichsten in einem Guss. Die „vom Gesetz des Eigensinns“ getriebene Bohemienne Emmy Hennings kannte dieses Rauschgefühl nur zu gut. Mitten im Flug durch den „großen Raum“ wirft sie in ihren Ätherstrophen das visionäre Lasso aus, um mit drei umfassendenen Reimen etwas von dem zu fassen, was wir alle nicht verstehen. Wieso bin ich hier (und nicht woanders)? Weshalb hält mich die universelle Allmacht zusammen? Und warum muss ich sterben?

Es ist das Wesen des Betäubungsmittels, dass die Schmerzverarbeitung im Gehirn ausgesetzt und die Reflexe der Muskulatur gehemmt werden. So zur wohligen Trägheit verdammt, wird die Fähigkeit zur Selbstkritik stark eingeschränkt und eine euphorische Stimmung setzt ein. So heißt es in Hennings Parallelgedicht Morfin: „Wir warten auf ein letztes Abenteuer / Was kümmert uns der Sonnenschein!“

Ihr Bedürfnis nach schmerzstillenden Mitteln lässt sich nachvollziehen: Denn sie war eine, die trotz Warnung ihrer Mutter vor „Gitter, Gosse, Ginster“, von Flensburg auszog, um das Leben auf dem Planeten Bohemia kennenzulernen. Das hieß in ihrem Fall Tingeltangel, Cabaret und Varieté. Das hieß rumhängen mit expressionistischen Dichtern von späterem Weltruhm. Und im Zürcher Cabaret Voltaire mitmischen am Urknall der vielleicht wichtigsten Kunstbewegung bis heute: Dada. Eine Nachtpflanze, eine Sängerin, Tänzerin, Puppenspielerin, Gesprächspartnerin, Dichterversteherin, Muse, Vielgeliebte; eine, die vom Bühnenlicht in den Schatten stürzte. In ihrem Tagebuch-Roman Das Brandmal, der 1920 erschien (als sie sich dem Katholizismus zuzuwenden begann), schildet sie die Nöte ihrer schwersten Zeit: wie sie in den 1910er Jahren als Schauspielerin ohne Engagement Hunger litt und im Sumpf der Vorweltkriegszeit stets wieder in die Prostitution rutschte.

En passant zeigen ihre Ätherstrophen auch die Narration des Rausches auf: Getragen vom Impuls der Weltüberdrüssigkeit, einhergehend mit dem Gefühl, nicht am rechten Ort zu sein (etwa in Paris – wo die „bunten Seidenfahnen wallen“), begibt man sich wenigstens für ein paar Augenblicke in einen anderen Seinszustand: Dorthin, wo ein entgrenztes Bewegen möglich ist – man fliegt im „großen Raum“ in die Sphären, ja durch die Sphären anderer Menschen und mischt sich in deren Träume ein – bis mit der Empathie die Realität wieder einsetzt: Ein kranker Mann starrt das lyrische Ich auf Volltrip mit einem hypnotischen letzten Blick nieder. Und vom gegenwärtig empfundenen Glück bleibt nur ein Sehnen nach einem schönen Moment, einem Sommertag zurück. Die dick aufgetragene Todesmetaphorik (letzter Blick / schwarzes Kreuz) verweist aufs Ende – auch aufs Ende des Ätherrausches. Das lyrische Ich verleibt sich den todkranken Mann regelrecht ein und die harte Landung naht: entweder in Form des kleinen Todes (Schlaf / Narkose) – in jedem Fall aber wird der XXL- Höhenflug mit einem bösen Kater auf dem Boden einer flüchtenswerten Realität zu bezahlen sein.

Emmy Hennings gilt neben Else Lasker-Schüler (die von Hennings wegen ihrer erotischen Freizügigkeit nicht sonderlich angetan war) als eine weitere Jahrhundertfrau der Avantgarde. Ihr Gedicht Ätherstrophen erschien 1913 in einem dünnen Bändchen mit dem Titel Die letzte Freude im damals angesagten Kurt Wolff Verlag – und zwar direkt nach den Bänden von Franz Kafka und Ferdinand Hardekopf. Ihre spätere Hinwendung ins verbrämt Religiöse an der Seite ihres Mannes Hugo Ball schien kaum weniger geheuer. Jedenfalls ist dem bürgerlichen Spektrum Emmy Hennings bis heute suspekt. Und so kann nicht einmal in Flensburg, ihrer Geburtsstadt, eine Straße oder Schule nach ihr benannt werden. Dabei hätte diese Ausnahmefrau ein übermenschliches Denkmal verdient.

In: FAZ vom 30.08.2019