Mit Domina Delila durchs Jahr

Im Bann der Rubrik Treffpunkte der Hamburger Morgenpost


Es mag zehn Jahre her sein, da geriet ich in den Bann abseitiger Nuancen des Boulevard-Journalismus. Ich war zu geizig für eine Tageszeitung, vielleicht auch zu nervös, trotzdem hatte ich einen gewissen Hunger nach bunten Nachrichten. Also gönnte ich mir bisweilen die kleinformatige Hamburger Morgenpost, kurz Mopo genannt. In einer halben Stunde hatte ich sie von vorn bis hinten durchgelesen. Am längsten hielt ich mich dabei an der Rubrik Treffpunkte auf, einer Sammelstelle für erotische Angebote. Auf einer Doppelseite fanden sich leichte Mädchen, Callboys und Transsexuelle, Rotlicht-Institutionen, Massagesalons, Puffbetreiber und Kondomverkäufer zu einem wunderlichen Stelldichein zusammen. Hunderte von Annoncen, die, in die engen Plätze mehrerer Spalten genormt, ein typographisch interessantes Gewimmel ergaben; mal mit herzchenumgebendem Kästlein, mal einzeilig nüchtern, mal fett, mal kursiv oder sachlich stringent.

All diese Annoncen hatten einen gemeinsamen Willen: So kurz und effektvoll wie möglich, die Information an den Mann zu bringen und ihn zum Wählen einer Telefonnummer, zum Vorbeikommen und schließlich zum Bezahlen einer erhaltenen Leistung zu animieren. Manche fuhren dabei in ungewohnter Offenheit Köder-Codes auf (genitale Lutschoase), andere setzten auf Verweise des guten Service, den guten Namen oder die Herkunftsländer ihrer Zugpferde (Tatjana aus der Ukraine – wieder da!) bzw. die minimale Dezimierung des Geldbeutels (günstig!). Subtilere Anzeigen brachten stets wiedererkennbare Zauberworte ein: Engelsmassagen, Transwunder, devote Dreilochstute, Rassekatze, zärtliche Sächsin, Schluckspecht, Handjob-Himmel, dominante Nymphe...

Geordnet war die Anzeigenflut nach dem guten alten Alphabet. Die A-Anzeigen (Anal) standen ganz vorne, die Z-Anzeigen (Zofe) ganz hinten, soweit, sogut. Natürlich wurde auch hier getrickst, um sich die frische Aufmerksamkeit eventueller Kunden zu sichern: Die Anbieter setzten einfach eine kleine vertikale Leiste mit vielen A´s an den Linksbund ihrer Annonce – schon war ihnen einer der ersten Plätze sicher. Regel hier: Je mehr (dann eben kleinere) A´s, desto weiter oben. Das führte dazu, dass man sich erst einmal durch ein paar Dutzend A-Anzeigen lesen musste. A A A A Ich "KOMME" mehrmals. Zugegeben, der Overkill an erotischen Offerten zog mich in seinen Bann. Ich verschrieb mich am Frühstückstisch dem Studium des anonym-lüsternden Lockrufs einer Großstadt. Jedenfalls las ich mich regelmäßig an diesem anregenden Konvolut fest, versuchte mir unbekannte Codes zu knacken und Systeme zu erkennen. Dabei fielen mir in innerhalb der D-Rubrik die Anzeigen einer gewissen Domina Delila auf, die dem mehr oder weniger bunten Treiben im Medium der "Liebeswerbung" ihre ganz eigene Art entgegenzusetzen wusste. Sie fuhr nämlich Tag für Tag mit einem neuen, stets derselben Anzeigenlänge entsprechenden Spruch auf, etwa: Wen erregt es, daß es mich erregt, wenn man mich erregt erregt? Oder: Wonnen aushalten müssen ist lustvolle Qual, ganz ohne Schmerz. Oder: Wer alltäglich herrscht, schöpft neue Kraft aus der Unterwerfung. Oder: In 1 Minute ist es leicht, über 1 Stunde bedarf es Meisterschaft. Oder: Der Herrin Lust ist der Maßstab der Lust für den dienenden Mann. Oder: Das Wichtigste an jeder Inszenierung von Lust ist die Regie. Oder: Ein Diamant muß seine Härte nicht beweisen, um begehrt zu sein. Oder: Generöse Mäzene genießen und fördern meisterliche erotische Kunst. Oder: Männer von Welt entspannen von der Welt in der Welt der Wonnen. Oder: Erst die Scham macht Schamlosigkeit ultimativ unwiderstehlich. Oder: Verbote reizen Anarchisten wie Aristokraten zu verbotenem Spiel. Oder: Normaler Frust entsteht bei öder Normierung natürlicher Lust.

Es dauerte ein paar Monate, bis ich bemerkte, welche Sprachperle da seine gepfefferten Dienste anbot. Ich war insofern angefixt, dass ich beim Studium der Kontaktanzeigen immer zuerst auf die Rubrik D wie Domina Delila sah. Man kann sogar sagen, dass ich die Mopo nur deswegen täglich kaufte. Natürlich ging auch mal ein Spruch in die Hose: Lust bereiten kann nur, wer selbst echte Lust empfindet. Oder: Zensoren deuten Zweideutiges eindeutig nach ihren eigenen Gedanken. Oder: Züchtige Wonnen sind wie alle faulen Kompromisse kompromittierend. Oder: Anständige Lust ist anständig unanständig oder ständig lustlos. Oder: Leistungsträger haben das Recht, sich auch mal etwas zu leisten. Oder: Nur Wertvolles kann preiswert sein, d.h. seinen Preis wert sein. Aber das war mir egal.

Mir gefiel dieser Gestus, der sprachliche Überlegenheit in Sentenzform zu suggerieren versuchte und die Kundschaft über ein facettenreiches Puzzle zur (Schein)Persönlichkeit einer Domina führte – und vielleicht sogar in Abhängigkeit brachte. Da schein mir die tägliche Annoncenform als Medium mindestens genauso effizient genutzt, wie die ebenfalls in der Mopo geschalteten Grußpost-Anzeigen, mit deren Hilfe die Polizei mit den Entführern von Jan Phillip Reemtsma kommunizieren konnte (Alles Gute, Ann Kathrin!).

Nur, dass mir Domina Delila weit weniger als ein Opfer vorkam, als all die anderen Anbieterinnen dieser Seiten. Vielleicht war es ihr schließlich eine Arbeitserleichterung, dass sie sich in wöchentlichen Serien mit Anfangskehrreimen erging, von denen ich nun einige vorstellen möchte: Wer lange genug Blümchennachthemden sah, ersehnt frivole Dessous. * Wer lange genug Strumpfhosen hingenommen hat, der will Nahtstrümpfe. * Wer lange genug Ökosandalen sehen mußte, schätzt heiße High heels. * Wer lange genug Wickelrock anschauen mußte, der liebt Lederminis. * Wer lange genug Kniestrümpfe ertragen hat, wird Strapse begehren. * Wer lange genug Wollunterhosen gesehen hat, mag dann Ouvertslips. * Hier die Ich-hätte-Lust-Serie: Ich hätte Lust, die Mätresse eines Millionärs mit Niveau zu werden. * Ich hätte Lust, mit einem generösen Sponsor eine Liaison zu haben. * Ich hätte Lust, einem vermögenden Freund diskrete Geliebte zu sein. * Ich hätte Lust, ein Verhältnis mit einem gütigen Gönner zu haben. * Ich hätte Lust, als Konkubine eines wohlhabenden Mäzens zu wirken. * Ich hätte Lust, verwöhnte Favoritin eines reichen Patrons zu sein. Oder die Weibliche-Hitze-Folge: Weibliche Hitze entflammt männliche Fackeln zu zuckendem Feuer. * Weibliche Hitze weckt den glühenden Wunsch nach erlösender Nässe. * Weibliche Hitze entflammt Glut unter Asche neu zu züngelnder Lohe. * Weibliche Hitze entzündet stürmische Feurigkeit brennender Lust. * Weibliche Hitze läßt prall schwellenden Adern das Blut sieden.* Weibliche Hitze verbrennt sich an kalter Kohle zu belebender Wärme. Schön ist auch: Paradox reizend wirkt die Frau von Welt bei süßen Schamlosigkeiten. * Paradox reizend führt das schwache Geschlecht die Weiberherrschaft. * Paradox reizend wirkt eine fair Lady bei halbseidenem Tun. * Paradox reizend verbirgt Madame unter edler Robe ordinäre Dessous. * Paradox reizend ist ein honettes Frauenzimmer im diskreten Zimmer. * Paradox reizend entpuppt sich eine noble Dame als obszöne Kokotte. Etwas zur körperlichen Konstitution der Dame erfahren wir hier:

Drall und prall betonen barocke Formen verlockend die Weiblichkeit. * Drall und prall versprechen Früchte verführerisch volle Saftigkeit. * Drall und prall zeichnen üppig schwingende Formen den Frauenkörper. * Drall und prall wirken prächtige Blüten besonders verschwenderisch. * Drall und prall wiegen sich füllige Rubensmodelle in Fleischeslust. * Drall und prall ausgestattete Vollweiber schenken überreich Wonnen. * Wen die Lüsternheit dieses Vollweibs interessiert, dem sei diese Folge anempfohlen: Mit Lüsternheit stehe ich zu meiner Berufung aus Naturveranlagung. * Aus Lüsternheit wurde ich Hetäre, um zu fordern, was ich brauche. * Die Lüsternheit trieb mich zu dem, was ich mache und sehr genieße. * Zur Lüsternheit bekenne ich mich, wie zum pikanten Leben als Hetäre. * Als Lüsternheit empfinde ich die Lust, meinen Sex offen anzubieten. * Auf Lüsternheit beruht meine wahre Erfüllung als Freudenspenderin. Wunderbar! Weiter: Heute will ich einen zärtlichen Gönner zu meinem Geliebten machen. * Heute will ich mit einem einfühlsamen Liebhaber Freuden erleben. * Heute will ich von einem hingebungsvollen Lover verwöhnt werden. * Heute will ich mittels eines glühenden Verehrers in Hitze geraten. * Heute will ich durch eine ergebene Lust deine Wonnen erfahren. * Heute will ich für einen sinnlichen Freund süße Lust zelebrieren. Kurzum: hier spricht eine Klassefrau: Eine Klassefrau vereint ihre heiße Sexualität mit Flair und Charme. * Eine Klassefrau hat eine verruchte Schamlosigkeit bei hohem Niveau. * Eine Klassefrau bietet obszöne Lüsternheit immer gepaart mit Stil. * Eine Klassefrau ist trotz aller Hemmungslosigkeit eine aparte Dame. * Eine Klassefrau offenbart private Triebhaftigkeit in edlem Rahmen. * Eine Klassefrau offeriert gepfeffert scharfen Sex auf feinste Art. Anfang 1998, als die Annoncen von Domina Delila in der Hamburger Morgenpost ausblieben, fuhr ich in die Redaktion und ließ mir den gesamten Jahrgang 97 aushändigen. Jede einzelne ihrer Annoncen schrieb ich ab und veröffentlichte das Konvolut in unserer damaligen kleinen Literaturzeitschrift das haupt – ein Paukenschlag für meine These von found poetry: die Poesie liegt auf der Straße (bzw. hier: als Blume auf den Bürgersteigen). Anschließend war ich von dieser Form der unwürdigen Lektüre geheilt...


(In: Unwürdige Lektüren - Was Autoren heimlich lesen (Hrsg. Thomas Keul), Schirmer Graf Verlag München 2008)