Die Pilzhäklerin


Als meine letzte Großmutter starb, hatte das einschneidende Folgen. Natürlich fehlte sie der gesamten Familie. Niemand bekam mehr eingemachte Marmelade, und der Rotkohl wollte auch keinem mehr recht schmecken. Ich bezog ihre Wohnung in dem Bewusstsein, dem Tod eine weitere Generation entgegengerückt zu sein und freute mich trotz aller Widrigkeiten meines neuen, verantwortsvolleren Lebens.

Am meisten fehlte meine Großmutter allerdings ihrer alten Nachbarin Frau Bünning. Beide Frauen waren alleinstehende Witwen mit einer ungestümen Lust nach Sekt und Häkelei. Sie trafen sich nachmittags und wechselten Sektkorken, Luftmaschen und einen Haufen Zeit miteinander. Dabei quasselten sie aufgedreht wie zwei Hühner, die man mit biergetränktem Brot erst wild und dann müde gemacht hatte. Schließlich sanken sie in fette, braune Häkelkissen, gaben sich die Nachrichten und darauf die Hand zur Verabschiedung. Noch heute haben meine Eltern zwei große blaue Müllsäcke mit den Topflappen meiner Großmutter im Keller.

Fortan begegnete ich also Frau Bünning im Treppenhaus. Diese Begegnungen fanden meist weit nach Mitternacht statt. Stets lag die alte Bünning auf der Zwischentreppe zum ersten Stock. Also griff ich ihr unter die Arme, rappelte sie auf, fischte in ihrer Manteltasche nach dem Hausschlüssel, rückte ihre blonde Perücke zurecht und bewegte sie in ihr Bett, wo sie mir angesäuselt windige Avancen machte. Frau Bünning hatte mit dem Tod meiner Großmutter ihr Maß, ihren Lebenstakt verloren. Es war, als wäre sie nocheinmal Witwe geworden. Nun soff sie sich nächtens durch schäbige Kaschemmen, hatte eine Liaison mit einem fünfzigjährigen Bisexuellen, der tagsüber in der Mansardenwohnung den Junggesellen mimte, um nachts durch die Schwulenbars zu ziehen. Manchmal traf ich dieses seltsame Pärchen in den einschlägigen Kneipen und nicht selten musste ich den Tresenjungen anweisen, ein Taxi für Frau Bünning zu bestellen, da sie weder geradeaus sehen, geschweige denn laufen konnte. Der Barhocker, auf dem sie saß, geriet zu einer Lebensgefahr. Und nur zu oft vernachlässigte der Taxifahrer, sie bis vor die Wohnungstür zu bringen, obwohl ich ihm schon im voraus ein Trinkgeld dafür in die Hand zählte. Stattdessen lag die alte Frau einmal mehr selig schnarchend auf der Zwischentreppe.

Bisweilen klingelte sie bei mir und bat mich, ihr zwei Familienboxen Persil einzukaufen. Wenn ich sie vorbeibrachte, belohnte sie mich mit einem gehäkelten Fliegenpilz, der sich als ein umhäkelter Korken herausstellte. Die Korkkorkenpilze waren unten offen zum Hinstellen gedacht, die Plastikkorkenpilze komplett umhäkelt und mit einem Band zum Hinhängen versehen. Mich erheiterte diese Form der Handarbeit. So reihte ich über Jahre die Häkelpilze nebeneinander auf das Küchenboard. Ich weiß noch, dass meine Großmutter mir einmal sagte, dass Frau Bünning in den dreißig Jahren ihrer Freundschaft nicht einen einzigen Häkelpilz gegen einen Topflappen getauscht hat. Zudem verrate sie ums Verrecken nicht ihr Häkelmuster. "Da hättest du sie mal sehen sollen, wie sie säuerlich ihr Mäulchen verzog." Heute Morgen verließ ich das Haus und war erstaunt über den umfassenden Sperrmüll davor. Ich schnüffelte ein wenig darin herum, ein ganzer Hausrat stand da und zehn große Plastiktüten. In eine sah ich hinein. Hunderte von Häkelpilzen. Ich sah in die zweite. Hunderte von Häkelpilzen. Ich wusste nicht aus noch ein. Griff im Affekt die beiden nächststehenden Tüten und trug sie in meine Wohnung. Mein Freund lag noch im Bett, als ich mit zwei Händen Häkelpilzen ins Schlafzimmer trat. "Weißt du was das hier ist?" fragte ich. "Du hältst gerade einen dreifachen Vollrausch in der Hand", sagte er, was mich ob seiner hellseherischen Schlaftrunkenheit die Brauen in die Höhe ziehen ließ.

Ich ging zurück ins Zimmer und blickte aus dem Fenster auf die Straße. Passanten gingen an den Plastiktüten vorbei, hielten inne, und fast jeder, der hineinsah, klaubte sich einige Pilze aus den Tüten. Fliegenpilze bringen Glück. Ich dachte an die wahnsinnige Arbeit an diesen Abertausenden von Glückspilzen. Und was für eine famose Legitimation sie waren, so eine hermetische Form der Selbstberechtigung. Witwe Bünning musste saufen, damit sie häkeln konnte. Und häkeln, damit sie saufen konnte.

Ich sah auf die Pilztüten hinab. Dann stieg ich die Treppen hinunter, sammelte die übrigen acht Tüten ein und stellte sie in meinen Keller. Danach rief ich meine Mutter an. Ich sagte, dass ich gleich vorbeikommen werde, um zwei Lebenswerke zusammenzubringen. Und dass es gut wäre, wenn sie die beiden Müllsäcke mit den Topflappen aus dem Keller holen könnte.