Punkwand

- Miniaturen aus dem Jahre 1999-


Nicht nur, daß die Zerstörung des deutschen Waldes einer phallischen Bankrotterklärung gleichkommt, auch Goethe beginnt allmählich sein Fingerspitzengefühl zu verlieren. Das Weimarer Goethe-Schiller-Denkmal ist von einer Gips-Rußschicht überzogen, die die braun-grünliche Patina, bestehend aus Kupferoxid, Kupfersulfid und basischer Kupferverbindung, verdeckt. Goethes rechte, lorbeerkranzhaltende Hand weist an der Kuppe des Mittelfingers ein Loch zum Abfluß des Kondenswassers auf. Seit Jahrzehnten ist es verstopft und verkrustet. Mikromillimeter um Mikromillimeter wachsen Goethes Finger. Doch alle Feinfühligkeit büßen sie ein. Als kurz nach der Wende bei der Restaurierung des Denkmals das Kondenswasserloch geöffnet wird, fließt es auch wieder aus Goethes Schreibhand: ein halber Liter rostiges Wasser hatte sich in ihm aufgestaut.

Wie Tanzmaus. Führe infolge krankhafter Veränderungen im Labyrinth Stadt Augenzwangsbewegungen aus. Und drehe sie im Kreise. Wie tauglich ist eine Nachtfahrt mit der S-Bahn. Im Fahrgastraum spiegelt sich beim Ausblick: Ein Mann mit zwei Hunden. Mit feinem Gefühl kommandiert er die Tiere zwischen den Beinen anderer Fahrgäste. Einen Schäferhund und einen mittelgroßen, schwarzen Spitzmischling mit hinreißendem Weiß im Augapfel. Der Mann ist im Gesicht tätowiert. Ein möwenartiges Ornament zwischen den Augenbrauen. Seine Hände sind übersät: Yin und Yang, Buchstaben, Punkte, Herz, Schwert und Kreuz. Über die Mittelhandknochen beider Hände steht H A S S. Outlaw. Von den 70ern bis heute. Alles selbstgestochen; vergrünt und feinadrig verteigt unter der Haut. Er oder seine Hunde. Ich überlege, wer hier wohl so stinkt. Woher nimmt er den Charme, die Animalischen so liebevoll zu streicheln? Sie werden einander alles sein. Der Schäferhund richtet derweil sich von Platz! in Sitz! und fährt einen in seiner pinkigen Farbigkeit denkwürdig die Szenerie dominierenden Steifen aus. Ich blicke vom Spiegel des Ausblicks direkt darauf steige ich aus. Alsterdorf.
Mein Freund hat uns eine Wintergemüsesuppe gekocht. Und das mir; lauter Zutaten, die ich verachte: Weißkohl, Wirsing, Sellerie und eingelegte ganze Knoblauchzehen in einem Sud aus Brühe. Alle Ingredienzien weiß. Wo es doch heute das erste Mal schneit. Und als er sagt, er mag am Gemüse den Geschmack des Grünen nicht, sind wir einig. Die Suppe schmeckt gut, und ich hole mir nach. Drei Stunden später, die letze S-Bahn schient ins still verschneiende Stadtherz, sehe ich wieder aus diesem Fenster. Eine alte Dame steigt mit deutschen Vorstehhund zu. Der setzt sich vor sie Sitzende, blickt ins Leere und sie Vornüberbeugende: küßt ihm immer wieder unter freundlichstem Murmeln die weichstgestreichelten Haare der Stirnpartie. Das Tier blickt der Dame mit seiner angeweißen Schnauze in den Schoß. Sie holt aus der Manteltasche ein Stück Hartfutter vor die Lefzen, das Tier wendet seinen Kopf und blickt zurück: Trübe und müde: Die Leere. "Sind wir denn satt?" fragt die Dame. Mit jeder Schneeflocke fällt ein Jawoll.

Nicht alles scheiße, was stinkt; nicht alles Gold was glänzt oder Ab 10h: Leder, Lack, Gummi, Seide HH 457070 oder ein kleiner Reflex genügt der ein Stück Licht im Körper abglättet oder Unterkleid mit Spaghettiträgern, French Knickers, 100% Satin oder der Gedanke, daß sie sich anzieht, um sich auszuziehen oder Glanz = feucht = heiß oder der Mann ist Voyeur der Frau die Exibistionistin ist oder Schlüsselreizrundungen in Gewebe mit stark glänzender Oberfläche oder haptisches Abgleiten im Kopf oder von Einer die auszieht, um von dem Versprechen zu leben, auf das keine Erfüllung folgt oder Spannung, die sich hochhechelt; die Enthüllung der letzten Hülle schöpft die Erregung vollends ab.

Die Sprengkraft der Beatles in den frühen 60ern. Und ihre Weiblichkeit. Wie sich ihre Körper umarmen, ihre langen Haare, ihre Homoerotik, wenn sie beim Singen die Köpfe zusammenstecken und schütteln; so kommen androgyne Revolten auf Touren. Und zwar immer dann, wenn was in der Gesellschaft bricht und knistert. Dann werden Geschlechtermerkmale kategorisch überwunden, die Fiktion eines idealen Übermenschen wird zum Magneten, der verschiedenste Vorstellungen anzieht und in eine gesellschaftliche Utopie transformiert. Manneskraft allein ist da nur Sparflamme. Öl auf den Boden unter den Füßen. Abschied vom Konzept des harten Kerls; Größeres steht an, und alle Distanz zu gesellschaftlichen Konflikten schmilzt zum KNALL aus dem Revolver von Mark Chapman. Twist and Shout! Da bricht zwischen den Polen Freier Künstler in abgehobener Sphäre versus agitierender Politiker im Windfang des Dakota-Buildings zusammen: Das Konstrukt John Lennon. Der Portier beschreit den Mörder: "Einen solchen Mann haben Sie erschossen!"

Sensible Halbschlafphase, mit einem leichten Ziehen rauscht das Blut durch die Schlauchungen des Herz-Kreislauf-Systems. Ich fühle die Blutzellen angerauht und kantig an den Aderwänden kratzen. Doch die Müdigkeit liegt schon im Kopf des Körpers quer und lähmt; schon sind die Augen geschlossen. Keine Änderung der Schlafposition möglich. Das Herz schlägt wie ein bösartig verlangsamtes Metronom. Alpträume fesseln ans Bett und entladen sich im Körper mit einem schmerzhaften Zucken. Verquecksilbrisierung der Gedanken. Ich gehe durch eine schmale Gasse. An buntgestrichenen kleinen Fachwerkhäusern entlang. In einem Hauseingang steht in weißer Kinderschreibschrift: Hier wohnt der Guru mit der Taschenlampe. Da geh ich in einen dunklen Raum, in dem nur ein kleiner Lichtkegel: Guru. Guru strahlt mich an. Dort, wo das Licht seiner Taschenlampe auf meinen Körper trifft, bin ich Loch; Nichts; etwas, durch das Licht geht. Je mehr ich mich Guru nähere, desto kleiner und heller wird dieses Loch. Zucken. Winterolympiade in Nagano. Der alten Straßenhändlerin ist es für die Zeit der Winterspiele polizeilich verboten, ihre Apfelsaftspezialität aus Naganoäpfeln feilzubieten. Hauptsponsor der Winterolympiade ist Coca-Cola. Zucken. Das Wälzen eines Satzes, den ich schließlich in meinen Notizblock kritzel: Das Tragische am Leben ist der Gedanke daran. Zucken (an das Ende). Positionswechsel.

Früher Samstagabend. Stehe im dunklen Zimmer bei Liebherr am Fenster. 4. Stock. Die Fensterfront gegenüber (Schneeregen fegt durchs Licht der Straßenlaterne): Meist schwarz verspiegelt, und wenn beleuchtet, genauso tot. Zerwühlte Schlafgemächer, verlassen in lauem Schein. Geisterbetten. Stehengelassene Fensterarbeitsplätze. An einem sehe ich Hände sich über eine Tastatur bewegen. Schwerkonturierbare Schatten hinter Vorhängen. Dann spärlich Aktion: Eine junge Frau staubsaugt als Silhouette durch einen Halogenflur. Im Treppenhaus geht Licht und teilt das Haus, ein Mann steigt durch alle Stockwerke hinab. Eine Zimmertür öffnet sich für einen Lichtkegel und schließt. Unsichtbare Menschen im blauen Licht ihrer Fernseher. Die mit vergrüntem Fernsehlicht schauen die Sportschau. Aus einem verlassenen Wohnzimmer leuchtet ein Aquarium mit roten Fischen.

In New York von allen schlechten Geistern verlassen. Die Verabredung mit Freunden in der Pink-Horse-Bar platzt, niemand zeigt sich. Ich streife durchs nächtlich pulsierende East-Village und überlege nächste Schritte, als aus einem Club ohne Namen Bässe auf die Orchard-Street dringen. Glastür öffnen, die filzigen Windfänge beiseite schieben und eintreten: Schlauchförmige Räumlichkeit, als Prolog ist der DJ am scratchen zu Drum´n Bass-Sounds, den Mittelteil bildet ein langer Tresen, und das Finale besteht aus einer Sitzecke mit Videobeamerprojektionen von Tierfilmen: Marder räubert Nest. Als ich zwischen Tresen und Wand entlang, zupft sie mich am Ärmel: Flüchtig aus meiner Heimatstadt bekannt, seit fünf Jahren nichts mehr gesehen oder gehört, weil nach London. Ich weiß nicht viel mehr von ihr als: "Du hast doch früher immer ein Ozzy Osborne T-Shirt angehabt!?" Sie hält mit beiden Händen ihre Jacke auseinander: "Hab ich heut nach Jahren mal wieder angezogen." Kleiner Lebensglückschnittpunkt. Einige Stunden erzählen wir uns. Ich trinke Ginger Ale. Wir glauben beide an den Zufall. Mit "viel Glück" und "alles Gute" verabschieden wir uns. Ohne Adressen zu tauschen.

Das ist ungeschriebenes Gesetz auf Provinzbühnen. Die Garderoben alternder Schauspieler dürfen fünf Minuten vor Auftritt nicht betreten werden. Da stehen sie und wichsen sich einen an, um sich aufzupushen, um sich unter Höchstspannung zu setzen, um die sexuelle Erregung mit auf die Bühne zu nehmen.
Ich spiele in einem Stück und weiß nicht, wie es heißt. Ich frage das Schauspielerkollegium. Sie lachen mich aus. Ich frage den Regisseur. Er lacht mich aus. Ich frage den Pförtner. Alle lachen mich aus. Sie denken ich verarsche sie. Niemand will mir sagen wie das Stück heißt.

Lösche den Fernseher und alle Lichter. Stelle mich in den Flur der Wohnung und belausche die Decke; tumb virbrierende Schläge und viril verzweifelt Geschrei. Dann kracht auch schon die Haustür. Auge an Türspion. Er poltert die Treppen runter und raus. Sie in der Küche betätigt flugs den Wasserhahn (hat wohl die Ruhe weg, die Gute, trinkt Tee!?). Charakterlos genug schnauft er bereits zwei Minuten später retour. Erneut Geschrei, Gegenstände fallen, wieder verläßt er den Wohnraum und bricht; diesmal laut schluchzend im Treppenhaus. Ich horche ganz genau. Er hechelt leicht hyperventilierend, mal rhythmisch, mal arhythmisch sich steigernd, stößt Wehlaute und fällt aus in undefinierbare Schallöcher. Als die Zeitautomatik im Treppenhaus Licht löscht, wimmert er sich in die Wohnung zurück. Tee? Meine Überlegung ihrer Ruhe: Entweder hat er fremdgesext, und sie ist ganz ruhig Tribunal. Oder sie hat ihr Herz an seiner Ohnmacht vorbei verloren. Tendiere zu Variante zwei, denn der Gefühlsausbruch, der ihn übermannt, weist auf Überraschung, nicht auf Notplan. Ich zappe durchs Fernsehprogramm. Jubiläumsgala von Pleiten, Pech und Pannen.

"Wieso soll gerade ich mich über Ungerechtigkeiten echauffieren, wo doch die ganze Welt daraus besteht?" frage ich mich mit geschlossenen Augen. Im Feierabendbus in den Schlaufen hängen. Die unangenehme Seite menschlicher Nähe, der Schweiß, der Mundgeruch, das Drücken fremder Bäuche. Ich stelle mir Bauknecht vor, wie er, Schlaufe für Schlaufe, heimtückisch und schnell mit einer Rasierklinge fremde Pulsadern aufschnittert. Abhängen und ausbluten lassen. Der Feierabendbus braust derweil einfach weiter.

Raus aus den Chemiefasern unseres Lebens. Beide nackt und ab: In die Sitzbadewanne. Du unten, ich oben. Kräuterschaumbad, Melisse. Beruhigt und entspannt. Eis klötert den Ouzo im Glas. Erst heißt es Prost!, dann Augen zu. Bis kleine Wellen Hand und Fuß an die Haut legen. Schnell in Handtücher und unter Bettdeckes Heizung. Die wassergetränkte, stumpfe Haut trocknet in Minuten der Nähe zu Streichfähigkeit. Im Schutz von Dunkelheit und Hitz und Hatz spielt und spült schmutig die Feuchte wieder retour in Körper und Geist, bis die Unfähigkeit aus dem Füller heraus in den Notizblock ejakuliert; die Unfähigkeit, stringent zu denken: Blaue Flecken, aus denen ich meine Tinte ziehe. Nie schreibe ich mit schwarzer Tinte, weil die bei Aufdruck die goldene Feder mit Dickflüssigkeit blockiert, also klumpt. Klumpen. Wie alles zusammenhängt. Im Lehm der Dinge.

Ist das nicht schön? Wie der Künstler die Gesellschaft harmonisiert. Wie zwei gegensätzliche Positionen miteinander in Kontakt kommen und sich überwinden. Man muß nur darüber reden. So einfach ist das. Wir holen den Alltag zurück in die Kunst und denken darüber nach. Denken führt zur Sprache (besser: Sprache führt zum Denken und wieder zurück), Sprache ist eine Modulation, die jeder Mensch = Künstler modelliert. Und mit der läßt sich eben nicht jedes Problem fassen. Du darfst gehen, aber der Ekel bleibt hier. Ekel im kleinen Alltag. Ich ekele mich beim Abwaschen über den Sodder, der nach Ablauf des Abwaschwassers im Abflußsieb zurückbleibt. Meine Mutter pult den Ekel auseinander, er verliert sich in Niedlichkeiten: ein langes und ein kurzes Haar, eine Erbse, Staubflusen, einige Sesamkörner, ein Stück Plastikverpackung, Schinkenbröckchen, ein aufgeschwemmter Brotkrumen, die abgerissene Ecke einer Fishermans-Friend-Packung.

Ein superdicker Langhaardackel hat unter seinem Hängebauch einen Gurt mit zwei Rollen, die sich über Pflasterstein wälzen.
Ein superdünner Langhaardackel steckt in einem karierten Cape, auf dem steht: Jogging. Yeah! In dieser Einkaufsstraße kann man glücklich werden.

0-Punkte-Tage sind Tage, an denen nichts stimmt. 10-Punkte-Tage sind Tage, an denen alles stimmt. Die Hochzeit. Der schönste Tag im Leben. Ich halte nicht viel vom Aberglauben, daß einige Tage, wie Geburtstag, Weihnachten, Hochzeit besser sind als andere. An keinem Tag im Leben ist man so fremdbestimmt wie am Tag der Hochzeit. Jedes Ritual saugt Lebenssaft und untergräbt jede Individualität. Die besten Tage sind die 6 bis 8-Punkte-Tage. Gut schlafen, Post mit Perspektive im Kasten, brauchbar denken, nacktes Mädchen und abends dann in der Kneipe nach dem dritten Bier, wenn man schon leicht angeschickert am Pissoir steht und weiß, daß man noch mindestens zwei Bier vor sich hat, dann: ist das ein 8-Punkte-Tag. Niemals möchte ich mich durch einen 10-Punkte-Tag schlagen. Den perfekten Tag. Der wringt alle Illusion aus dem Waschlappen Leben und läßt keinen Tropfen Hoffnung mehr übrig.

Neue Einschlafmantras. DAS MACHT NICHTS. Daß ich nicht einschlafen kann. Und wie merkwürdig Luna heute ihr Licht an den Eiskristallen des Cirrusgewölks beugt. Eine diffuse, vom Stadthimmel angehellte Wolke halb um die Scheinende rum; die wirft im Altostratus einen halben Leuchtkranz ab und randet ihn mit einem düsteren Regenbogen. WER WEIß? Zahnrädchen des Denkens greifen ins Leere, bis: WER WEISS MEHR? Dann: WER WEISS MEER? Dann: WER WEISS? MEER. Schließlich schleife ich nur noch zwei Worte. WEISS NICHTS.

Die auf hellblauen Hintergrund gemalte bunte, indische Miniatur. Kaum 10 x 10 cm. Auf dem Trödlertisch. Zeigt zwei Männer. Nackt. Mit dem Gesicht nach links ausgerichtet. Beide mit erigierten Penissen. Der Passive hockt vor dem Aktiven, der den Coitus per anum vollzieht. Beiden steht ein irres Grinsen im Gesicht. Exklusiv wird die Szene durch den gehobenen linken Arm des aktiven Mannes, in dessen Hand, bereit auf den Passiven niederzusausen, ein Messer steckt. Dieses Grinsen. Warum? Jähe Freude an der Nötigung? Aus der heilen Haut heraus? Wie? Samenverschwendung als poetischer Abgang des Bösen? Ein unsauberer Zusammen = (Ab)Fall der Gegensätze. Hols der Teufel: Fleisch zum Verbrauch. Der freudige Vernichter befruchtet noch nach Jahren aus der Erinnerung mich freudigen Empfänger.

Drei Grundregeln der Interpretation.
1. Interpretierbar ist das, was im Kunstwerk angelegt ist, egal ob vom Künstler intendiert oder nicht. Von oben wird behauptet, der Idealtag ist eine Trias. Täglich acht Stunden Schlaf. Täglich acht Stunden Arbeit. Täglich acht Stunden Freizeit. Hierzu stelle ich fest: Täglich acht Stunden Pathologie. Pathologie find ich klasse. Pathologie find ich scheiße.
2. Es gilt solange das Wahrscheinliche, solange nicht explizit auf das Unwahrscheinliche verwiesen wird. Das fehlende Sexappeal mancher Frauen. Weil sie aussehen, wie das, was am Rockzipfel noch alles mit dranhängt, an dem man sich seit dem freudigen Ereignis ICH festhält. Heute hat man Angst, daß der Rockzipfel zurückgreift. Daß er es ist, der beengt, der die Luft stickig macht. Der Halt gibt.
3. Wenn ich einer Behauptung nicht ausdrücklich widerspreche, stimme ich ihr zu.

"Das ist ja das Gute an der Vielgötterei!" ruft Bauknecht fast durch die ganze Kneipe. "Da kannst du dir einen aussuchen." Recht hat er. Vater Christi schafft es bei weitem nicht, sich den Plural hellenistischen Glaubens einzuverseelen. Besser ist doch, man sucht sich den, der; und egal wen man anbetet, man ist was man bleibt: ein Gottesfürchtiger. "Unser Gottesglaube wär doch eh klar", brüllt Bauknecht mir ein. "Baccus." Das klingt wie Diktat nach dem vierten Bier. Zwar nicht ganz stilecht der Rausch, aber wenigstens der Anfangsbuchstabe stimmt, dachte ich. Und: Jajaja! Hab nichts gegen und viel für. Im übrigen: "Neue Runde!"
Einen Tag, einen Kater und mehrere Kopfschmerztabletten später an der frischen Luft; bin zwar kein Seefahrer, lebe auch nicht im sturmgeschüttelten Krisengebiet, dennoch, es ist Aeolus, der Gott der Winde, dem ich Glauben und Wort überantworte. Unsere Konversation besteht zum Größtenteil aus Dingen, die man sich nicht mehr sagen kann. Er bläst mir immer wieder den Kopf frei.

Dieser unbewußte Luftraub sollte einen laut aufjauchzen lassen. Tanze nicht erst als Toter (selbst das Skelett ist teilweise lufthaltig) um den gut durchlüftet und durchatmeten Horror vacui. Doch meist versinkt mit der Luft die Vergessenheit selbst in der Lunge. Sublim ist dieser Mikroselbstmord. Das Mentholzigarettenparadox: Frisch und kühl zieht die Mentholvorhut in die Lunge und öffnet weit das Fenster; leichte Betäubung durch das ätherische Öl der Minze - Nebelbombe - und das Fußvolk Nikotin hält im Sichtschutz Einzug und kleistert bis in die kleinsten Lungenbläßchen. Das ist ja das Verrückte am Rauchen: Man schadet dem Körper und wirkt dennoch lebensintensivierend auf ihn ein; man wird sich des Atmens bewußt. Man merkt sich wieder ein: Ich atme.

Zug ruckt an, Zugfenster zieht Blick. Unter den grauen Himmel. Kaum größere Tristesse möglich als die von Bahnhofsvorplätzen und Unterführungen am Sonntagnachmittag. Ruhige Ausfahrt aus der Stadt heraus. In Reih und Glied stehen Krankenwagen den kleinen Parkplatz des Rettungsdienstes voll. Kränkelt sich schlecht heut stirbt es sich vielleicht besser. Die Fernsehturmspitze steckt im Nebel. Auf den kalten Feldern flaumt schon erstes Grün. Im Waldstück, das der Winter einsichtig hält, lähmt ein junger Rehbock und äugt. Auch der Müll im Gebüsch längs der Bahnlinie schweigt uns hinterher. Ohne Sog durchschneiden wir den kaltblütigen Stoff der Natur; stoisch überträgt der Radsatz des Großraumwagens die Unebenheiten in Schwellen und Schienen in einen Rhythmus, der einlullt. Wie in Trance, weit weg und warm, schreien Kinder mehrere Sitze hinter mir. Der grundlegende Mythos ist der, daß es weitergeht. Ein zu hoch eingestellter Thermostat überheizt alles weitere.

Der Charme der weichen Seele: Sie läßt sich schlechter greifen als die durchgehärtete. Weiche Seele rinnt Finger durch. Man darf ihr nicht nachstellen, sie nicht fassen. Jede Berührung zerstört. Weiche Seele vergibt zwar und vergißt, dem Berührer jedoch rinnt beißender Schweiß, Speichel schäumt ihm das Maul und Haar wächst seinem Körper zu Fell. Oft wird weiche Seele angeschissen. Weiche Seele hat feines Haar und eine glatte, mit Essig eingeriebene Haut. Alle Wunschprojektion schwimmt satt in ihr. Weiche Seele wird von einer exellenten Gleitfähigkeit heimgesucht.

fern.sehen.macht.traum.los. Die Stand-by-Taste. Steht bei Fuß. Batterie ist aus. Das Zappen im Liegen vom Bett aus unmöglich. Sirenenhaft lockt der Schlaf. Kopfsprung in dunkles, körperwarmes Schwimmbecken. Der Taum des Bettnässers ist eine Rose ist ein Traum des Pinkelns ist eine Rose ist ein Traum des Pinkelns ist eine Rose... die Geschichte der Zeit verliert ihre Chronologie. Wiederholungen gibt es nicht. Die Hose wird warm vollgepinkelt. Im gelöschten Fernseher zieht eine Surprise-Show Einschaltquoten; die im Studio hoffen auf de-facto-Wunder, die vor dem Bildschirm auf den visuellen Beweis dafür. Das ist jetzt hier: Andacht findet vor allem in hochtechnisierten Fahrstühlen statt; öffentliche Buße als Reinigungsritual in Talkshows; und ist nicht das ganze Leben (the hole-life) eine Surprise-Show? Denn das Wunder, das als Hoffnung jedem Menschen eingeschrieben steht, ist doch dies: ICH werde mich nicht aus dem Gen-Pool der Menschheit verabschieden.

Wie Sprichwort: Ein Hund, der ein menschliches Bedürfnis hat. Ficken ist wie Collage machen. Leimenleimenleimen. Der Herr Geschlechtsverkehr nimmt eine leere Bierflasche in den Würgegriff, beginnt flachbrüstig zu denken und bläst zaghaft seinen langen Atem in den Flaschenhals, daraus wird ein warmer Ton. Dann steckt er die Flasche in ein weiches Brötchen. "Du hast doch Augen im Kopf, so hübsche", sagt er zu Frau Maumaumiau. Sie klimpert nur mit blutgesenktem Wimpernschlag. Freundschaft auf Befehl, mit Aufblick. "Her mit deinem kleinen Schweineköpfchen" sagt sie. Sein Körper setzt sich in Bewegung. Er ist so dick, daß er eine Dreiviertelstunde damit füllen wird. Die wahrgenommene Vagina. Sein Schweineköpfchen fällt ihr in den Schoß und brennt. Wie Zunder, das Zeug, denkt er. Die Frau Maumaumiau fühlt sich als menschlicher Humidor. Ein feuchter Tresor, in dem man Zigarren lagern kann. Doch sie denkt weiter. An Schläuche und Stöpsel. Der Herr Geschlechtsverkehr beginnt verschiedene Körperteile abzustecken. Das Mädel ist so leicht wie bekömmlich, denkt der Herr Geschlechtsverkehr.

Mai in Griechenland. Wir sitzen spät abends in der Taverne die Tageshitze aus. Ouzos und Hunde streichen um uns. Einer sieht es besonders ab, eigentlich die ultimative Töle: klein, blond, langhaarig, mit einer rosafleischigen, offenen Wunde am rechten Hinterlauf. Hartnäckig. Seit ich ihn einmal gestreichelt, scharwenzelt er um die Stuhlbeine, macht sich dann und wann mit einem gedämpften Kläffen bemerk- und liebkosbar. Als wir aufbrechen, folgt er. Die ganze lange Straße von Marmaris. Am Hotel heißt es Abschied. Er legt seinen Kopf schief, als ich ihm vor der Nase die Appartementtür des Hotels schließe.
Am nächsten Morgen aus dem Straßengraben blickt der Hund auf uns Zum-Strand-Gehende. Als er erfreut wieder folgt, kommt in mir die Schwere potentieller Verantwortung als schlechtes Gefühl hoch. Ich versuche, ihn zu verscheuchen. Er wedelt mit dem Schwanz. Am Strand angekommen, graben wir ein Loch für unsere Kleidung, entkleiden uns, packen die Kluft ins Grab und Sand drauf. Dann schmeiße ich so weit ich kann dem Hund einen Stock und wir sprinten ins Wasser und schwimmen so schnell und weit gen Horizont; schwach sichelt ein zunehmender weißer Mond über dem Meeresspiegel. Da sitzt er am Strand. Ganz klein. Uns zugewandt. Und heult. Und heult. Und heult. Der Mond nimmt zu, wir nehmen ab, werden immer kleiner. Schließlich findet der Hund andere Urlauber, die ihm den Stock werfen. Das Tier zieht mit deren Positionsveränderung alle Verantwortung von uns ab.

Jungs in der Phase unfreiwilliger Keuschheit. Manche von ihnen, vorwiegend die ohne Perspektive auf das weibliche Geschlecht, beginnen, gegen die Schwerkraft der Kausalität, junge Frauen auf ein luftiges Podest zu stellen und heimlich anzubeten. Ihre feenhafte Beseelung, ihre Reinheit, die vor allem die eigene Reinheit ist, und die Hoffnung auf drei freie Wünsche, die eigentlich nur einen Wunsch bündeln. Antikes Selbst- und Trostgespräch: Was, Sappho, kannst du jemandem geben, der wie Aphrodite schon alles hat? Die fetten Schenkelknochen einer weißen Ziege werde ich dir geben.
Das hehre Mysterium Frau entschlüsselt sich mir im fünfzehnten Lebensjahr. Als eine Rothaarige sich mit mir anfreundet, die in einer Neubausiedlung, nah am Laub lebt. Stundenlang tanzen wir uns im Keller zu Angie eng. Barfuß laufen wir durchs Schweigen des Waldes über ein Meer brauner Tannennadeln. Sie zeigt mir ihren Lieblingsort; eine Bunkerruine. Hier sitzen wir auf dem freigelegten Kuppeldach, trinken lieblichen Rotwein und rauchen Beedees. Einzig die Judasohren, labbrige, braune Baumpilze mit ohrförmigen Fruchtkörpern, an den abgestorbenen, bemoosten Holunderstämmen ringsum, lauschen unsere Gespräche ab und verpfeifen sie dem Wind.

Der innere Schweinehund läßt sich nur schützen, wenn man ihn besser kennt als die Wilderer. Die wollen einen mit der Zweiläufigen doch nur zu hirnloser Arbeit treiben. Nein. Mein innerer Schweinehund fault und lenzt in der Sonne. "Was willst du?" frage ich ihn. "Doch nur dein Bestes. Immer nur dein Bestes." "Na, dann ist ja gut", sage ich und leg mich auf die Matratze. Um meinen Geist, der diese Matratze ist, liegt ein Deich. Um abzuhalten. Doch das schlechte Gewissen, von dem alles durchdrungen ist, beginnt sich in feinen Rinnsalen zu sammeln, zu einem reißenden Siel zusammenzuschließen und auf wunde Punkte zuzustürmen, sie zu unterspülen; da kann auch ein Ghostreiter à la Hauke Hain mit seinem Wunderschimmel nichts machen; manchmal bricht ein für alle mal alles in einen herein. Und dann ersäuft die Bestie.

Laut schlagen Leinen an Mäste, Flaggen knattern dem Sturm davon, manches Tuch schon bis auf die Hälfte ab zum Gegner geweht. Hoch schlagen Wellen, über den Strandhafer der Dünen rollt der Wind, ins Inselinnere strömt loser Sand. Aufgeschlagener Meeresschaum reißt los und reibt sich auf dem rauhen Strand. Da hockt, eingewaschen im Sand, eine Möwe. Das Gefieder offen zerfucht und kalt durchnäßt; die Augen schwarz und ohne jeden Glanz tief in den Höhlen. Leichtes Drehen und Wenden des Kopfes verrät noch nicht ganz erkaltetes Blut. Eine Welle läuft weit aus und begräbt den Vogel unter einem großen Schaumberg. Als ich mich nach einigen Schritten wieder umdrehe, schält eine kräftige Windböe - - das Tier reckt instinktiv mit letzter Kraft den Hals.

Schon über die Strenge, was in die Kehle fließt. Boden sehn! ist hier Kommando, Parole und Trinkspruch zugleich. Bauknecht gibt die neue Losung: "Weiberärsche gucken!"
Die Geldstücke, die die Bedienung mir in die Hand gibt, sind warm. Verdammt, sie hat das Portemonnaie in der Gesäßtasche stecken. Raus in die Nacht. Auf dem Weg zur Tankstelle ganz vorn auf Reinigungs Rotationsständer: Ein Hochzeitskleid im grünen Schein der Notbeleuchtung. In einem Auto, das vorbeifährt, kläfft ein Hund. Und das ist mir auch noch nie aufgefallen; was in gelben Lettern groß und quer auf dem Schaufenster des Bestattungsunternehmers klebt: JEDERZEIT (also wenns nach denen ginge!). Botschaften aus dem Dunkel der Geschichte. Tankstelle. Flaschenbier bunkern. Bauknecht ordert zwei Laugenstangen und das Taxi. Beim Kauen auf der Rückbank: Peinlich und rührend, die juvenil unfreiwillige Anti-Kotz-Taktik; die Mädchen meiner Schulklasse, wie sie mich sterngehagelt Daniederliegenden mit trocken Toastbrot fütterten.
Die Kellertreppe runter in die Disco. Verrauchte Luft. Die Tanzfläche umstehendes Leichenwagenpublikum. Aufregend wie für einen schnuppernden Hund der Gang über den Wochenmarkt. Luft holen zwischen den Beats, Tiefflug, Luft halten und die Wohlschwingende fixieren: Shake it. Arme links. Shake it. Arme rechts. Shake it, Baby. Shake it slow. Schlangenlinien. Schwanenhals. Filmriß.

Noch heute trifft mich der Gedanke an das Ende von Familienphotos wie ein Blitzschlag. Das ist fünfzehn Jahre her: Ich bin in einen großen, offenen Müllcontainer geklettert. Hier habe ich nichts zu suchen, sagt man, doch das stimmt nicht. Alles wird sich finden. Mich findet ein Buddismus-Taschenbuch, das bis heute ungelesen im Regal. Jetzt vor dem Computer erste Stichprobe: Ananda: Wie sollen wir uns den Frauen gegenüber benehmen? Der Herr: Sie nicht sehen! Ananda: Und wenn wir sie sehen müssen? Der Herr: Nicht mit ihnen sprechen! Ananda: Und wenn wir mit ihnen sprechen müssen? Der Herr: Unsere Gedanken scharf unter Kontrolle halten! Außerdem vier Groggläser aus Bleikristall mit ornamentalem Schliffband; drei von ihnen sind inzwischen zu Bruch, das Eine hüte ich wie nix. Und dann fällt mir dieses Familienalbum in die Hände. Ich blättere in Unfaßbarkeit. Wer richtet über das was bleibt? Wer löscht letzte Spuren? Der Reinheit des Vergessens bin ich Sand im Getriebe. Ich. Der Letzte, der über diese Photographien die Chance hat, den Code der Erinnerung mit Anteilnahme zu schwängern. Das erste Mal überkommt mich die Ahnung totalitärer Einsamkeit. Wenig ist so irreversibel traurig, wie die lausigen paar Zeichen, die dich überleben: verwaist, verwittert, vergessen habe ich alle Einzelheiten auf den Photographien. Nachkriegsallerweltsphotos. Doch seit ich dem Container entsteige, treiben sie mich um. Und als ob ich ihren Verlust damit kompensiere, beginne ich zu sammeln; ob zerissen und von Schuhsohlen zerkratzt im Dreck der Straße, aussortiert im Mülleimer von Photofachgeschäften oder zerstreut in den Zimmern von Abrißhäusern; das Ende der Photographie liegt in meinen Händen. Beautiful friend, the end.

Menschliche Bildfläche, von der nichts mehr verschwindet: Rechter Oberarm: Ratte. Chinesischer Drache. Knochenornament. Linker Oberarm: Magier mit Glaskugel. Fledermaus. Schädel. Rechte Schulter: Kreis aus 4 Flugdrachen um Spiderman. Linke Schulter: Kraken. Krebs. Wasserman. Strudel. Feuerfisch. Rechte Brust: Gecko und Pfeilgiftfrosch auf Ast. Linke Brust: verflochtenes Zick-Zack. Rechter Oberschenkel: Feuer-Wasser-Erde-Luft-Zeichen. Linker Unterschenkel: großflächiges Fischgrätenornament. Er trägt das Bildprogramm einer Phanatsiewelt wie ein Siegel in seiner Haut. Er will mit dieser Welt nichts mehr zu tun haben.

Literatur muß von Mythen beerbt sein. Sie kann nicht anders, als Welten durchzuspielen; selbst nach der Leere des Modernismus entstehen Welt- und Wertegefüge: 68er, Feminismus, französische Theoreme, die noch heute durch die Literatur georgelt werden. Nur will man diese Schlüssel? Ein erschlossenes Kunstwerk ist doch ein Totes. Lichtenberg spricht von einem Mann, der soviel Verstand hat, daß er zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Was heißt das? Das Ungesagte, Nichtgesagte, zwischen den Zeilen Verkomplizierte, das Nichtrückübersetzbare, ist das Poesie? So ist es: Ich verschlucke mich derart am Sinnverlust, daß ich nur noch lustvolle Scheiße abgebe. Gottseidank komme ich aus einem Volk, das in ihre Wasserklosetts eine Ablagefläche einkonstruiert, damit man nach erfolgter Bestuhlung einen Blick auf die Exkremente werfen kann. Kurz, die anale Phase der Literatur hat mich am Arsch. Und meist bin ich der einzige, der mich aufliest. Und so wichtig, das andere um mich rum mich ahnen müssen, bin ich nun wirklich nicht. Mein Lieblingskontrapunkt zum Wagner-Credo Keine leere Note!: Paul Bowles zum Verschollensein seiner frühen Symphonien: Dinge vergehen. Menschen auch. Nostalgische Stringentdenker glauben an das Alles-ist-gemacht-um-zu. Weiter und zuendegedacht also die Anrufung Gottes. Die Kunst als Simulation eines (paradiesischen) Lebens ohne Alternativen. Ein Weg. Ohne Ausweg. Das ist Leben. Widersacher behaupten, die Kunst liegt darin, alles so aussehen zu lassen, als ob es ein unglaublicher Zufall ist; pinkel in die Ambrosia und du erhältst Aphrodisiaka. Ich fühle die Kleinigkeiten meiner Geschichtchen und Gedänkchen dazwischen. Ohne klare Position. Für eine Pointe begehe ich ohne weiteres einen Fehler. Dieser Text ist ein zielloses Cut-up, ein Sample, ein Free-your-mind-Zapping. Der Vorwurf, noch heute durch die Kulissen der Moderne zu streifen ist illegitim und langweilig etc. gilt lediglich unter der Prämisse, daß eh jedes System Kulisse, also veraltet ist. Die Beseelung gelingt nur qua des poetischen Aktes. In diesem Diskurs ist was durch wie zu ersetzen. Literatur ist immer nach alten Originalrezepturen gemixt. Warum sträuben? Stäuben! Nicht zuviel denken und wennschon denken, dann querdenken. Die Irrfahrt der Jetztzeit ist der Glaube an die Mythenlosigkeit.

Wie die Augen leuchten, wenn Liebherr anfängt von Poppers zu erzählen. Diesem kleinen roten Fläschchen aus dem es, einmal geöffnet, extrem in die Inhalation dampft und drängt. Bauknecht, wie er zum erstenmal Poppers tief durch die Nase holt, kippt nach hinten auf den weichen Wohnzimmerteppich weg. Die in Vietnam haben das Zeug erstverbraucht. Heute gibt es das nur noch in Sexgeschäftchen unterm Ladentisch; S/M-Leute lassen es sich in in den Filter der Gasmaske träufeln, während sie am Andreaskreuz hängen und bedient werden (aktiv sein und gewähren lassen!). Da kommt man dann langsam, aber gewalttätig. "Ich finds affig, daß man immer was erzählt bekommt, was man nicht weitererzählen darf", sagt Liebherr. "Auf der anderen Seite wird man genau dadurch zum Geheimnisträger und Freund", sage ich und lüge; denn weil es mir grad so gut geht, kann ich böse denken. Komme mir vor wie ein kleiner Junge, der still und leise ins Abwaschwasser seiner Mutter spuckt. Also; kleiner Tip unter Killern und Schreckmachern. Man schraube die Glühbirne aus der Fassung. Bohre vorsichtig ein kleines Loch in den Glaskolben. Fülle ein halbes Fläschen Poppers hinein und schraube die Birne vorsichtig zurück. Der nächste, der den Lichtschalter betätigt, verliert sein Gesicht.

Der schwarze Strich, der einem verkritzelt durch Herz, Hirn und wieder heraus geht: Glaube, es ist bloße Ohnmacht. In einer zwischenmenschlichen Situation, die man bislang gedreht, gewendet- ; einfach nichts mehr machen zu können, selbst wenn man macht, weil sowieso alles falsch. Allein die Tatsache, daß man macht. Actio - Reactio gerät zu Actio - Error. Eine Freundin sagt solidarisch-vertröstend: "So ist das, wenn eine lange Beziehung zuende geht: erstmal kräftig ausprobieren. Und sei es nur, um zu sehen, daß dann doch nicht." Merkwürden.
Halt mich fest an deinem Körper klebt die angefütterte Hoffnung. Halt mich fester an deiner Wärme zerreib ich mich. Halt mich am festesten rinnen mir unsre Tage die Wangen runter. Wellenrauschen. Die Karawane zieht. Wellenrauschen. Zieht Engelszunge mir aus dem Maul. Alles klebt. Aus deinem Kopf wächst goldenes Haar. Aus deinen Schulterblättern Flügel. Und deine Drosselgruben, zwischen Halsmuskel und Schlüsselbein, sind mir weit und breit Tränenkrüglein.

Wenn dir die Pfade des Sinns zu ausgelatscht erscheinen, bewege dich in der Aufwachphase auf einer sicheren Plattform für Abstürze. Fenster und Münder sind sperrrangelweit geöffnet. Maulsperren. Maulsperren für alle Fenster. Klimaanlagen für alle Münder. Die ersten Minuten nach dem Aufwachen am Morgen; für die tausch ich Stunden. Und schließe die Augen. Ich träume eine alte Frau, die den Friedhof nur noch am Arm eines Zivildienstleistenden verlassen kann. Am anderen Arm geht der Knochenmann schon lachend und tanzend mit; plötzlich ruft er mit einer gläsernen Stimme das in vereiste Ohren, was niemand hören will: "Sie weiß, daß sie sterben wird (für mich). Ihre Zeit vergeht schnell, so oder so. Haha. Es gibt eben keine Zeit die langsam vergeht. Geht sie vorbei, zieht sie ihren Hut niemals wieder (verbeugt sich mit ausladender Geste). Die Zeit, die du Halbschläfer vertrödelst, die sack ich mir ein! Du Schwärmer und Spermer! Mit Zucker und Klebstoff, sack ich sie mir ein!"

Komme von den Göttern der Antikensammlung in dieses Bild: Auf den Bohlen ihres Wohnzimmers steht eine halbmeterhohe, dunkelbraune Vase. Darin allerschönste Füllung: Mannshohe Magnolien, kindshohe weiße Lilien und herausrankender Efeu. Das Bild, das ich mir von dieser floralen Freude mache, wird das Blühende und Blutende überleben. Vielleicht ist das ungerecht. Sie ist eine von denen, die Liebherr als kleine Mütter bezeichnet. Als wir bumsen, sehe ich auf ihren Kaiserschnitt; jeder Stoß sagt Kind.-.Kind.-.Kind.-... und ich: Aber ich ficke doch nur. Und sie: Aber mit einer Mutter. Mutter. Dieser beliebte deutschen Aufenthalsort. Die Vier-Säfte-Lehre geht mir durch: Gelbe und schwarze Galle, Blut, Schleim. Ist die Zusammensetzung der vier Elemente gut, so ist es die Gesundheit; ansonsten wird gesund gefoltert, "nachgleichen" nennt sich das: Abführmittel, Aderlass, Brechen. Sperma gehört wohl in die Rubrik Schleim und muß dauernd nachgeglichen werden. Über ihrem Bett hängt eine Europakarte. Ich sehe das jetzt ganz genau: Jütland ist der Pimmel zwischen den dicken Arschbacken von Skandinavien.

Dem Compagnon von Bauknechts Vater steht die Scheiße bis zum Hals. Er hat 30 Millionen Schulden. Und glaubt immernoch, daß er Schnäppchen schlägt, indem er verlassene russische Kasernen aufkauft. Überall hat er sich Geld geliehen. Ein Junkie hat mir mal erzählt, wie man das macht: "Also du holst dir erstmal einen Termin bei der rechten Hand, die autorisiert ist, einen dicken Strich durch deine unbezahlten Rechnungen zu machen. Dann ziehst du deinen besten Anzug an, nimmst einige Nasen Koks und wenn du diesem Bankmenschen gegenübersitzt, redest du zu ihm wie zu einem lahmen Schimmel. Erzähl ihm genau das, was er hören möchte. Lüge Hoffnung vor. Schmeichel. Seriösität ist das Zauberwort. Ansonsten gib du dich so liquide wie möglich, damit du jeden Riß sofort zuschleimen kannst."
Oftmals sind die russischen Soldaten jahrzehntelang völlig ohne sanitäre Anlagen ausgekommen; die Kellergeschosse der Kasernen sind bis unter die Decke voll mit Scheiße.

Hier sitz ich an diesem sonnigen Samstag Nachmittag und schaue aufs Meer. Meine Freundin ist gerade im U-Boot-Ehrenmal verschwunden, um auf einer von unzähligen kupfernen Totentafeln die mit dem Namen ihres Großvaters zu suchen. Irgendeine dreistellige und aufsteigende U-Boot-Nummer. 123. Oder 234. Oder 456... ich sitze lieber hier auf der Bank und schaue aufs Meer. Matt schlappen die Wellen der glatten See in den Sand. Die Sonne macht alles glänzend. Seit heute ist offiziell Frühling; in unserem zweitklassigen Opernhaus langt man mit der Premiere vom Sommernachtstraum gleich ganz hin. Auf den Molen stehen Menschen in Reih und Glied mit ihren Angeln. Der Hering liegt in der Luft. Wenn die Sonne so schön scheint, glänzen die Goldhaken verführerisch im Wasser. Das Geräusch von Flugzeugmotoren an einem besonders blauen Tag merkt man erst, wenn das Flugzeug so weit weg ist, daß man es kaum mehr hört; ganz ähnlich wie mit Lerchen, nur das die abrupt auhören in der Luft zu singen. Ein kleines Fischerboot läuft aus der Förde mit einem chaotisch kreischenden Heiligenschein von einem Möwenpulk. Ein junger Hund kommt gerade an meine Bank; er riecht die Tinte in der Füllerspitze und leckt daran. Die ersten Notizen danach (diese hier) sind ganz wässrig. Jetzt kommt meine Freundin wieder. Es war das U-Boot mit der Nummer 456. Ihr Opa war Obermarschall. Vor dem Auslaufen seiner Todesfahrt hatte er schon ein schlechtes Gefühl und wollte nochmal alle sehen. Meine Freundin liest mir vor, was sie sich von der Gedenktafel abgeschrieben hat: U 456 * Kommandant Kaptlt. Max Martin Teichert * Am 13.05.1943 im mittleren Nordatlantik durch brit.-kanadische Geleitsicherung versenkt * und dann folgen Namennamennamen. Eine Angriffsfahrt also. Ich sage zu ihr: "Du bist ein Kind dieses Landes. Du bist die Tochter einer Tochter, die ihren Vater nie gekannt hat." Ihr Großvater wurde 47° nördlicher Länge und 28° westlicher Breite versenkt.

In einem Raum, dem jedes Lot versinkt. In einer Welt, die schwirrt und surrt und immer falschrum dreht. In einem Kontinent, der sich, wenn alles alles schläft, mit Äxten selbst zerteilt. In einem Land, dem salzige Tränenflüsse in einem Meer aus Sod münden. In einem Dorf mit lauter Vorgärten, mit kleinen Apfelbäumchen, an denen jeweils nur ein kürbisgroßer, roter Apfel hängt. In einem Haus aus brennendem Stroh. In einem Zimmer, in dem nachts die Schränke einem entgegenhumpeln und rumpeln. In einem Bett in Dingenskirchen: Da heiraten wir!
Jeder Mensch widerspricht sich. Die sich nicht widersprechen glauben, ein rechter Charakter zu sein. Philister alle! Sieg des Starrsinns! Kein Charakter sein heißt, mehr Mensch sein.
Das denk ich jetzt vor dem Spiegel in meinem weißen Unterhemd. Nichts macht weniger als das. Die Welt ist manchmal nur im ungewaschenen Unterhemd zu ertragen. Wa-haha-rum? Weil man dann aussieht, als ob man wenig vom Leben hat und will. Weil das ein Anblick ist, der falsch verstanden wird und falsch verstehen ist ein Segen der Vernunft. Vor dem Spiegel. Da stehen wir alle einmal. Ich geh ins Du. Du gehst in Er. Er geht ins Sie. Sie geht ins Es. Es geht ins Ich. Etwas erkennen heißt, es unerträglich finden. Ich selbst finde mich unerträglich.

Bauknecht will Liebherr überreden, mit ihm noch loszuziehen. Liebherr hat keinen Bock. Doch jedes private Gespräch folgt der gleichen Struktur und dem gleichen Ablauf wie ein Verkaufsgespräch. (Meldung) Hier Bauknecht. (Begrüßung) Hallo Liebherr. (Floskel als Gesprächseinstieg) Wie gehts? (Gefühlsebene treffen) Ich hör mir seinen ganzen Mist an. (Interessewecker) Hast du gehört, daß in der Holtenauer Straße ne neue Kneipe aufgemacht hat?
Er (Einwand): Ja hab ich aber ich muß noch lernen und meine Freundin mault auch, wenn ich heute schon wieder mit dir loszieh. (Verständnis heucheln...) Das kann ich verstehen (...dann allerdings sofort Bedarfsermittlung) Wann mußt du denn morgen raus? Um wieviel Uhr schläft deine Freundin? Wann genau ist deine Prüfung? Wie lange lernst du normalerweise am Abend?
Er: Na, in der Regel so bis zehn...(Angebot) O.k. dann lern doch bis zehn. Ich hol dich ab. Und dann trinken wir nur ein Bier in der neuen Kneipe. Er: Also gut. (Zusammenfassung) Dann hol ich dich um zehn ab. Ich freue mich. Lern schön. (Abschied) Bis dann.

Das lerne ich von dem Mann, der bei MC Donald´s die Tabletts zusammenstellt, den Müll trennt und die Tische wischt. Er ist klein, etwa sechzig Jahre alt, hat graues, halbverglatztes Haar und ein Gesicht wie ein Affe. Er arbeitet stolz, ruhig, jeder behandschuhte Griff sitzt, kurz: mit Würde. Wenn ich das Treppenhaus putze, denke ich an ihn. Einmal mit Handfeger, Schaufel und Besen von oben nach unten und dann nocheimal mit Heißwasser und Wischmob. "Du mußt ordentlich von dem Zitronenzeug rein tun und immer schön feucht wischen, damit auch die Dümmsten merken, daß du hier warst!" Das gibt mein Vorgänger mir mit auf die Stiegen. Jeder Schritt, jede Dreh-, Fege- und Aufwischbewegung ist ritualisiert. Im Dachgeschoß streiten sich immer zwei Beos von Wohnung zu Wohnung. Da funk ich dann mit einigen Pfeifern dazwischen, bis sie mich Herabsteigenden, leiser und leiser nachäffen. Das lern ich: Den Oberkörper gerade halten. Keine schnellen Bewegungen. Und steigt jemand durch meine frisch gewischte Arbeit durch, dann halte ich mich. Mit Würde.

Es geht in der Kunst nicht um Kunst, schreibt Wolfgang Max Faust, es geht um unser Leben. K steht vor L im Wörterbuch, deshalb kommt erst die Kunst und dann das Leben. Oder vor dem Leben kommt die Kunst. Kunst kommt von "erkennen", erkennen von "etwas geistig umfassen". Leben kommt von "übrigbleiben". Übrigbleiben: "überschüssig, über das erforderliche Maß vorhanden sein". Kunst und Leben: Dieses Überschüssige, über alle Maßen Vorhandene, geistig umfassen = Tomaten von den Augen nehmen. Den Wald vor lauter Bäumen sehen. Geräusche hören. Der Straßenverkehr wird zu Musik. Das Atmen zum einmaligen Glück.
Die Gretchenfrage dahinter: Wie verwandelt sich Erkenntnis in Leben? Alles wird zu Staub. Wie verwandelt sich Scheiße in Gold? Im Radio: Gold ist nichts anderes als glitzernder Staub aus dem Weltall.

Die Kirchuhr schlägt. Der Mittagssonne entgegen. Auf der Parkbank am Ententümpel. Der Geruch des Wassers: Frisch, leicht rostig stiehlt er die Vokabel Erholung aus dem Kopf, wie der Fuchs die Gans. Diese beobachte ich hier. Und es ist meinen Augen das Höchste, den Gänsen durch beide Schnabellöcher hindurch aufs gleißende Wasser zu gucken.
Leute auf anderen Bänken. Rechts eine sehr alte Frau. Sie sieht aus, als ob sie schon mit dem Tod Geschäfte macht. Ein weißer Turbanhut sinkt mit ihrem Kopf. Sie nickt ein. Ein friedliches Bild. Links sitzt ein Pärchen in den 50zigern; er trägt Mundschutz. Um eine Zigarette zu rauchen, nimmt er den Mundschutz ab. Enten watscheln gackernd, plötzlich schnell und lauthals zänkisch hintereinander her. Wir müssen alle lachen. Wir sehen uns selber in ihnen. Zwei Trauerschwäne kommen angeschwommen. Ein kleines Mädchen an der Hand ihres Großvaters zeigt auf beide: "Das ist der Vater - und das ist die Mutter." Trauer. Pflanzt sich immer fort.

Dem umstrittenen Neubau im westlichen Bahnhofsviertel muß ein Gutteil der historischen Bausubstanz, teils intakt, teils durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen, nach und nach weichen. Das Kaufhaus Hertie, das hier einen massiven Neubau errichtet, spendet eine Gedenktafel: AN DIESER STELLE BEFAND/ SICH DAS GEBURTSHAUS/ DES DICHTERS UND LYRIKERS/ DETLEV v. LILIENCHRON/ GEB. 3.6.1844/ GEST. 22.7.1909/ IN RAHLSTEDT/ BIS ZU SEINEM 17. LEBENS-/ JAHR WOHNTE ER IN KIEL. Im Dezember 1970 haben sie sein Geburtshaus abgerissen. An der 40x50cm großen, bronzenen Gedenktafel, die heute den Rundpfeiler einer gefälligen Konsumpassage ziert, strömen grimmige Gesichter vorbei. Kamen Menschen uns entgegen,/ Wollten sie uns überholen/ Ließen wir die Hände locker,/ Gingen ehrbar Seit an Seite,/ Wie´s so geht. Ich stehe hier nun schon eine Viertelstunde. Niemand sieht auf die Tafel.

Ich schwimme mit meiner Mutter in der ägaischen See als mir beim Auftauchen eine wichtige Schnitt-, Schalt- und Übergabestelle unserer beider Leben klar wird. Ähnliche Situation wie vor zwanzig Jahren. Da schwimmen wir auch im Meer, im Atlantik, es ist ein heißer Sommer und wir, mein Vater, meine Mutter und ich, haben ein kleines Appartement auf Sylt gemietet. Eines Abends, nachdem wir an einem besonders heißen Tag wieder im Appartement zu Abend essen, stellt mein Vater im kleinen Kofferradio die Nachrichten ein. Kurz darauf legt sich meine Mutter ins Bett und beginnt, leise zu weinen. Elvis ist tot. Ich bin neun Jahre alt und wundere mich über meine weinende Mutter. Jetzt, beim Schwimmen in der Ägäis erinnere ich mich, daß ich mir im gleichen Urlaub meine erste Bravo gekauft habe. Auf dem Cover war Patrik Hernandez, der gerade den Hit Born to be alive hatte, und diese erste Bravo ist für mich ein derartiger Einstieg in die Welt des Rock´n Roll, wie der Tod von Elvis für meine Mutter der Ausstieg aus dieser Welt ist. Nun hört sie nur noch ruhige Radiomusik. Ich, mit der übergebenen Rock´n Roll-Staffel in der Hand kümmere mich in den folgenden Jahren darum, den Beginn von Heavy Metal mit- und nachzuhören. Die Beiläufigkeit, mit der mir das in der Ägäis bewußt wird, treibt mir die Tränen in die Augen. Meine Mutter schwimmt wieder an Land. Und ich tauche mehrmals unter, um den Körper ganz mit salzigem Wasser zu umspielen. Niemand wird etwas merken.

Er erzählt mir von seiner Therapie; alle handeln zusammen wie ein Gewissen. Und jetzt steht er hier und erzählt mir, wie er sich mit zweien von denen fast täglich in der Disco trifft. Der Eine ist einundzwanzig, der andere siebenunddreißig. Er erzählt mir das alles jetzt und hier in seinem Zimmer. Es ist sein dreißigster Geburtstag. Er erzählt, wie er in der Disco betrunken vom Hocker fällt. Er erzählt, wie am Karfreitag Tanzverbot in der Disco herrscht. Ein Tanzverbot, das immer wieder durchbrochen wird, wenn viele auf die Tanzfläche stürmen und tanzen. Er erzählt, wie ein Mädchen allein auf die leere Tanzfläche geht um zu tanzen und wie ein Ordner sie brutal angeht. Da hält er es nicht mehr aus auf seinem Hocker und stürmt auf den Ordner zu. Kaum ist er an ihm dran, da packt ihn schon jemand, zieht ihn nach hinten, schlägt ihm ins Gesicht und wirft ihn auf den Boden. Erst am nächsten Tag merkt er, daß er eine kahle Stelle am Hinterkopf hat. Man hat ihm einen seiner Rastazöpfe rausgerissen. Da malt er sich jetzt immer schwarzen Kajal rüber. Er erzählt mir von seinem Leiden so, als ob es ein Triumphzug ist. Er erzählt mir von seinem Leiden so, als ob es ein Triumphzug ist, damit sein Leiden am Mitleid vorbei in mich kriecht. Ich mag ihn sehr. Ich kann nichts machen. Vielleicht ahnt er, daß ich seine Geschichten aufschreibe und mich damit schuldig mache. Sein Leid wird zu meinem Text. Mein Text kann ihm nur zeigen, daß auch ich eine Unschuld verliere. Ich schlachte die Offenheit eines Leidenden aus und mache daraus einen Mantel, unter dem es friert.

Der Herr Geschlechtsverkehr und die Frau Maumaumiau auf Polterabend. Es ist erstaunlich, wie sie es immer wieder schafft, ihr Minnie-Mouse-Hirn hinter ihrem groß- und unartigen Vorbau zu verstecken. Sie zeigt allen, die es wissen wollen, wo sie ihre Netzstrümpfe geflickt hat. "Die sind ja sonst immer so teuer." Und als sie gackerig genug ist, blockiert sie mit dem Herrn Geschlechtsverkehr die Toilette. Sie ziehen einige Lines und öffnen sich ganz der fleischlichen Hauruckaktion.
Die Toilettenschüssel bricht von der Wand. Wasser, zerbrochene Fliesen. Eine Riesensauerei. Vor der Toilettentür macht sich bei den Wartenden Unruhe breit. Eine Mitwartende nennt sie abfällig Tussi und Ische. Frau Maumaumiau bekommt einen Tobsuchtanfall: "Wer hat das gesagt!?" Keine Antwort. Als der Herr Geschlechtsverkehr die Klotür öffnet, kauert Frau Maumaumiau am Boden. Hemmungslos rollen ihre Tränchen der Schwerkraft entgegen.
Doch schon ein halbe Stunde und mehrere Drinks später geht es ihr wieder besser. Schließlich nimmt sie die Videokamera und hält sie unter ihren kurzen Lederrock, um abzufilmen, wie sich ein feuchter Fleck in ihrem Slip breitmacht.

Letztlich ist jede Analyse unendlich profan. Wie ist das noch? Kommödie: Je besser der Humor, umso weniger findet man lustig. Tragödie: Je besser die Tragik, umso mehr findet man lustig. Oder ist es umgekehrt? Ich kann diese Gedanken nicht stringent an die Enden denken, ich verzettel, wiederhole und schnittpunkte mich dabei; das Unendlichkeitszeichen ist eine Möbiusschleife: Man kann jeden Gedanken der Oberfläche erreichen, ohne den Rand zu überschreiten, ohne jemals sehen zu können, was dahinter ist. Im Alter von 16 Jahren treffe ich die Frau meines Lebens im Freibad. Ich frage sie: "Hast du Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken?" Sie antwortet: "Weiß ich nicht."
"Das ist natürlich eine Scheißantwort", weiß der Leiter des Seminars Pädagogisch-problematisieren, und ruft unter dem Stichwort Einwandsbehandlung dazu ab: "Das ist natürlich eine Scheißantwort. Doch genaugenommen ist diese Antwort nichts anderes als ein Einwand. Im Klartext: Sie hat nicht Ja und nicht Nein gesagt, sondern irgendetwas dazwischen. Aus dem Weiß-ich-nicht ist dann schließlich doch ein Ja geworden und soweit ich weiß, lieben die Beiden sich noch heute. Will sagen: Dieses Beispiel zeigt uns, wie lohnenswert es ist, sich über Einwände Gedanken zu machen, denn Einwände sind schließlich nichts anderes als Verkaufschancen!"
So wird eine große Liebe, die meine Liebe ist, verdinglicht und benutzbar gemacht. Plötzlich lösen wir uns als Fallbeispiel für konsumorentiertes Denken in der Masse auf und sind weg.

Ganz schön janusköpfig, wenn mans bildlich nimmt, was über der Ehrenhalle des Laboeer Kriegerdenkmals steht: Entblöße dein Haupt und schweige. Was haben das deutsche Volk und der neueste David-Lynch-Film gemeinsam? Die Pointe: Das Opfer ermittelt sich selbst als Täter. Wenn ich jetzt von Aufklärung spreche, ist vieles kleiner geworden. Eben hatte ich noch das erhabene Gefühl, in ihr einen Spiegel zu sehen. Ich dachte immer, man verliebt sich stets in Gesichter, nie in Körper. Körper sind nur Kompromisse, dachte ich, aber eben... unsere Körper... was für ein Humus. Was für eine Saat. In der alles aufgeht. Mit Schirm, Scham und Haar. Leistenmißbrauch treiben. Etwas für den faulen Sack tun. Fürs Gepränge. Grau samen und dabei die Schmerzen des Patienten so behandeln, als wären es deine eigenen. Jeder Stoß macht Spaß. Daß wir dabei das Umuns so zerstückelt merken, so zerhackt, das kann allerdings auch Angst machen. Die Flüssigkeit der Wahrnehmung beginnt zu stocken. Kommen wir dann in und aus uns, erst stecknadelstichgroß, dann gewaltaktig klein, denken wir den Tod als letzte Geburt. Perlmuttfilm über alles. Aufs Höchste schmelzen ins Nichts ist voll von dir. Das ist doch ein Katzen-Hunde-Rammlerleben. Ein Leben das west. Ein Leben, das mindestens so reizvoll ist wie (noch warme) getragene Damenunterwäsche. `n Zimmer, wo nach Sperma riecht. Ich lieg grad so bequem da. Darf jetzt weder geschüttelt, noch gerührt werden. Quo vadis? Ich will mit dir gähnen! Ich fühle mich gut. Hätte jetzt kein Problem, den besten Wein in Urin zu verwandeln.

Drei schöne Metzgereischilder. DER METZGER IHRES VERTRAUENS. Mutter an Tochter: "Trau niemals einem Metzger. Der nimmt seinen scharfen Gedankenspalter und zerteilt dich sofort in Fleisch und Haut und Knochen. Wenn du bei so einem Ja sagst, kriegst du das Amen gleich mit hinterhergeworfen.“ WIR HABEN FÜR SIE FRISCH GESCHLACHTET! Für mich also. Bescheidenheit ist eine Tugend, doch weiter kommt man ohne ihr. Das hat sich rum-gesprochen. Das wissen inzwischen auch die Herren Schlachter. Medias in res (sofern man heute noch von res sprechen kann). Da haben wirs mal wieder: - - erst die Tatsachen schaffen, dann beschwichtigend regulieren. Doch ich sitz hier ungeduldig auf kalten Kohlen. Heute bleibt die Küche kalt... sollen sich andere zugrunde fressen und saufen in Essig und Öl. "Essig wie ein Bettler, Öl wie ein König", sagt ein berühmter Fernsehkoch. Alles ist angerichtet. Ein Bett in Friedrichsstadt. Und was für ein Schild draußen: HOTEL (Gedankenstrich) SCHLACHTEREI. Hier ruhe ich mich aus. Eine Nachgeburt auf dem Hof eines Bauernhofes. Eine Feuerqualle auf dem Trockenen. Eine Friedrichstädterin erzählt mir, daß der Spruch "Alles aufessen, sonst gibt es morgen kein schönes Wetter" auf einem Übersetzungfehler aus dem Plattdeutschen fußt: "Aans opeten, sonst gift dat morn nix Schönes wedder." Die Enden des Verbrauchers (Müll und Scheiße) sind des Verbrauchers Ende (Asche). Ich will, daß auch an mir kein gutes Haar mehr bleibt, ich will, daß zurück kommt, was zurück gehört. Dreck. Im Zeitraffer zwischen menschlichen Haaren saugt die Zecke sich voll mit Blut, schwillt auf ein fünffaches, man sieht fast noch, wie sie rülpst, dann hinterläßt sie noch´n Haufen Dreck, schaut sich einmal links, einmal rechts um und haut ab. Dreck ist so ein schönes Wort; es steigt drastisch per os in himmlische Sphären auf und rieselt als Ekel in die Gedärme nieder. Dreck. Drastischer Ekel. Den letzten Dreck macht niemand weg.