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DAIM (Mirko Reisser)

Pimp my Word

Graffiti: Wenn ich ein Wort wäre und mich selbst bedeuten würde: Was wäre ich dann?

Im letzten urbanen Freiraum, dem der Anonymität nämlich, blüht seit über 30 Jahren eine Wortkunst, die es verdient, als solche bezeichnet zu werden. Unter dem Schutzmantel der Dunkelheit bewegen sich auf der ganzen Welt sogenannte Writer, bewaffnet mit Eddingstiften und Sprühdosen. Ihrem Schicksal, einer unter vielen potentiellen Loosern zu sein, können sie so nicht entgehen – aber sie können für einen Moment von der süßen Macht kosten, mit einer Sprühdose vor einer leeren Wand zu stehen, um kurz darauf ihr Alter ego in Form eines Pseudonyms kunstvoll zum Leuchten zu bringen. Die Rede ist von illegalen Graffiti, die den Kern einer Szene ausmachen, über die der eben verstorbene französische Philosoph Jean Baudrillard schon 1975 in seinem Aufsatz "KOOL KILLER oder der Aufstand der Zeichen" sprach: "Es genügen tausende mit Markern und Sprühdosen bewaffnete Jugendliche, um die urbane Signalethik durcheinander zu bringen, um die Ordnung der Zeichen zu stören." Fame bekommt dabei, wer entweder auffällig viel macht, sich gefährliche Orte für seine Pieces sucht oder einen besonderen Stil fährt. Manche Writer schreiben in Crews, sind Teil der Hip-Hop-Kultur, manche ziehen einfach los und penetrieren den Stadtraum mit ihren Smileys oder Tag genannten Kürzeln. Dass dieses Ich-Sagen an sich schon ein politisches Statement ist ("Ich bin da – und IHR = das System kriegt mich nicht!"), daran besteht kein Zweifel.

Graffiti ist mittlerweile mehr als ein Hip-Hop-Phänomen, ein Lifestyle-Gespinst oder eine Reviermarkierung. Graffiti ist eine (auch literarische) Kunstform geworden. Die langanhaltende Popularität dieses innovativ mit der Wortgestaltung umgehenden Genres ist auffällig; man kann das Graffitiwesen längst nicht mehr als Mode bezeichnen, sondern muss es als festes Element einer weltweiten Subkultur sehen. Für die Langlebigkeit erweist sich neben der globalen Ausbreitung die Illegalität, in der sich die Szene bewegt, als absoluter Glücksfall: Denn es kann NIE Mainstream werden, irgendwo irgendwelche Wände zu beschreiben oder besprühen – da kann die Werbung noch so viele Graffiti-Schriftzüge als Hintergrund präsentieren, um Jugendliche zu ködern und mit ihnen Geld zu machen: Solange sich die Mehrheit der Bürger über die schnell und billig zu produzierenden, oft stümperhaften Textschmiragen aufregt, behält das Genre die nicht einzuverleibende Power, ein attraktiver Träger von Jugendkultur zu sein. Und wer glaubt, die Größe der Toleranz zu besitzen, den werden die neuesten in Fensterscheiben geritzten Scratchings oder ebendort eingeätzten Etchings möglicherweise eines Besseren belehren.

Wie in jeder anderen Kunstrichtung auch sind unter ästhetischen Gesichtspunkten zwei Richtungen auszumachen: Zum einen gibt es das Heer der Mitläufer, die eher die Regeln und Konventionen der Szene erfüllen. Sie steuern wenig Neues bei und lassen aufregende Innovationen vermissen, sind aber dennoch, mal als Solitär, mal in Crews organisiert, in den Städten der Welt aktiv – als Wasserträger, die den Diskurs über Graffiti am Laufen halten und dafür sorgen, dass ein Wort, ein Text, nicht mehr bloß auf dem Papier stattfinden muss, sondern weithin sichtbar für viele auf die Straße getragen (und gelesen!) wird. Der Masse ihrer Arbeiten ist zu verdanken, dass die Emanzipation der Schriftkunst, die ständig die Nahtstelle von Text und Bild überschreitet, zu keinem Zeitpunkt populärer war als heute. Wer in einen x-beliebigen Bahnhof einfährt, kennt ihre Schriftzüge: Ob sie im verschlungenen Wildstyle sich dem Code der Lesbarkeit verweigern (eine Art ästhetisches Rotwelsch), als riesige Blockbuster das Gegenteil tun und mit ihrer Größe = Macht protzen oder in einem wie aufgeblasen scheinenden Bubblestyle aufs Zerplatzen der materiellen Welt und ihrer Codes verweisen: In keiner Stadt der westlichen Hemisphäre lassen sich ihre Graffitis übersehen; dergleichen ist bis in die tiefste Provinz vorgedrungen und wird allerorten mal besser, mal schlechter durchgenudelt. Dann gibt es die wenigen Erneuerer: Sie preschen im Morphing der Textgestaltung voran, sind Missionare der Vielseitigkeit des sprachlichen Ausdrucks und machen großformatige Schriftzüge zu immer hochwertigeren Ereignissen. Besonders sinnfällig führt der 1971 in Lüneburg geborene, heute in Hamburg lebende Graffiti-Künstler Mirko Reisser alias DAIM vor, was es heißt, einen Schriftzug formal nah ans Unmögliche zu rücken: dreidimensional (d.h. ohne Outlines, nur durch Licht- und Schattenspiel) gestaltet, gesättigt in einer kühlen Farbpalette aus gedämpften Blaugrün- und Orangetönen lässt DAIM seine Buchstaben zerfallen, zersprengen, zerfetzen, ja regelrecht zerspritzen, so als wäre ihr Anblick nur in einer kostbaren Millisekunde möglich. Dann wieder scheint es genau andersherum, als befände sich das Buchstabengefüge aus schwer durchschaubaren, komplexen Strukturen gerade im Zustand der Formation, kurz vor dem Abschluss, sich zu einem Ganzen zu fügen. Das Programm von DAIM beinhaltet beides: sowohl die Konstruktion wie auch die Dekonstruktion eines Wortes – irgendwo im Pulsschlag zwischen Auslöschen und Einbrennen taucht es aus einer synästhetischen Sphäre auf, das WORT: Es entsteht aus dem Nichts und droht auch wieder dorthin zu verschwinden; doch in dem Moment, in dem es sich konstituiert, scheint es (und das ist wirklich neu!) als agiere es selbst, frei und losgelöst von der Inhaltslast, die es eigentlich transportieren sollte... Stattdessen wickelt es sich um komplexe Pfeilsysteme, lässt sich von ihnen leiten und durchbohren (aber nicht zerstören!), dann wieder schwebt es im luftleeren, dafür softbunten Phantasieraum zwischen zwei Fluchtpunkten umher; verweist ganz auf sich und spricht: Nichts ist so kampflustig und schön wie ich!

Sucht man die dynamische Chimäre normalerweise im inhaltlichen Tiefgang zusammenhängender Textpassagen, so findet man sie in den graffitisierten Einwortgedichten von DAIM eben in den aufregenden, immer anderen Oberflächen des Wortes selbst.

Der Schlachtruf von der "Befreiung der Worte" ist seit Marinettis futuristischem Text "Zang Tumb Tuuum" von 1914 bekannt; doch damals war diese Befreiung in ein offensiv verkündetes Programm eingebunden, welches die Welt als Simultanspektakel zu feiern suchte. Und auch Schwitters wusste, dass das Wesen der Kunst nicht bloß Schönheit ist, sondern dass sie die Eigenschaft habe, Grenzen zu überwinden und zu befreien. Nun aber scheint es, als sei das gläserne Bein der Pop-Art wieder mal mitten in die zeitgenössische Wortkunst hineingegrätscht. Die Losung lautet: Der Inhalt ist so unwesentlich wie ich selbst! – Eine treffendere Illustration für das, was McLuhan mit "The Medium is the message" gemeint hat, lässt sich im Bereich der Wortkunst kaum vorstellen.

Das Wort DAIM, dass sich in Auferstehung und Niedergang selbst manifestiert, kennt nur einen Stellvertreter: seinen Schöpfer – für die Länge eines filigran kredenzten Wandmomentes blitzt er auf! Bei solcher Hermetik, der sich eine gewisse inhaltliche Leere beigesellt, mag die träge Literaturwissenschaft nicht anbeißen.

Einen ähnlichen Abschied von aller Befindlichkeit hatte sich zuletzt die konkrete und visuelle Poesie auf ihre Fahnen geschrieben; ein Kontext, in dessen Tradition man die Wort-Graffitis von DAIM zurechnen kann. Doch während die Literaturwissenschaft über diese Sonderform der optischen Poesie hinwegzupennen gedenkt, macht sich die internationale Kunstszene an die Einverleibung dieser wunderbaren Position der Wortkunst. Manche in der Szene, so auch DAIM, haben jahrelang gezielt auf den Kunstmarkt hingearbeitet – dieser dankt das berechenbare Entgegenkommen und antwortet entsprechend mit Ausstellungs- und Verkaufs-Möglichkeiten, einem Freiraum also, der die Entwicklungskraft von Wort-Graffitis in den nächsten Jahren noch beschleunigen dürfte.


(In: Volltext Nr.4 / 2007 Wien)