
Gustav Kluge, Ring der Dinge, Schwaden im Streit, Öl auf Leinwand, 170 x 110 cm, 2016
Aufbruch in einen anderen Körper
- Anmerkungen zu den Arbeiten von Gustav Kluge und Kathrin Haaßengier anlässlich der Ausstellung Paragone, Galerie in der Stadtscheune Otterndorf 2016–Der Ausstellungstitel PARAGONE ist ein Begriff aus dem italienischen 16. Jahrhundert. Er bezeichnet den Wettstreit um die Rangordnung der künstlerischen Disziplinen Malerei und Bildhauerei. Der PARAGONE der Skulpturen von Kathrin Haaßengier mit den Bildern von Gustav Kluge in der Otterndorfer Ausstellung lässt sich dagegen als Wettstreit um die Aufmerksamkeit des Betrachters begreifen. Die Bewertung kann warten. Als gemeinsamen Bestand beider Positionen kann ich erkennen, dass sie Nichtsichtbares sichtbar machen. Ein sehr weiter gemeinsamer Nenner. Gustav Kluge arbeitet in seinem Bildprogramm mit einem Wechsel von Beobachtung und maltechnischem Transfer, mit empirischen Anteilen in beiden Bausteinen. Kathrin Haaßengier setzt in ihren Objekten und Installationen intuitiv transrationale Einsichten von heilenden Energien um. Diese sind von einem Wissen getragen, das all denen offen steht, die abseits der vertrauten Übereinkünfte einem Sonderweg trauen und sich in diesen einweihen lassen wollen. Ein solches Wissen lässt sich praktisch anwenden als harmonisierende Energie. Es ist ein neuer Ansatz in der Werkentwicklung Haaßengiers solche erprobten Heilkräfte in skulpturalen Objekten zu vergegenständlichen und diese in einer Ausstellung zu exponieren.
Vier ihrer Werke sind in der Ausstellung PARAGONE mit Bildern von Gustav Kluge konfrontiert, welche der rationalen Sphäre und ihren Alltagskoordinaten enthoben sind. Bei ihrer Betrachtung mag sich die Empfindung unheilsamer Atmosphären einstellen. Auch wenn nicht einmal die Hälfte der Bilder die menschliche Figur thematisiert, ist doch das fleischlich/Leibliche darin gegenwärtig. Ein kühler Grundton wie von fröstelnder Haut durchzieht Kluges Bilder. In „Ectoplasma Ocean“ entströmt einem hypnotisierten und isolierten Kopf Ectoplasma, eben jener geisterhafte Stoff, welcher sich aus den Körperöffnungen von Medien herausmaterialisiert. Das Ectoplasma ist Bildgrund füllend, es scheint allgegenwärtig und es ist der Phantasie der Rezipienten überlassen, ob sich im Bildhintergrund weitere Gesichter auftun.
Das chimärische Material des Ectoplasma hat Kluge durch eine maltechnische Extravaganz ins Bild gesetzt: Zur Visualisierung dieses nur in besonderen Räumen und mit besonderen Medien zu erzeugende Phantom-Materials benutzte er als Malmittel einen aggressiven Abbeizer, einen Farbvernichter, der die Pigmente ihrer Strahlkraft beraubt zugunsten eines Dreivierteldunkel, das auf die Lichtsituation der Ectoplasmaforschung verweist.
Im Bild „Fugue ectoplatique“ zieht das von Forscherinstanzen studierte Medium den Blick auf sich – ihrem Antlitz haftet etwas Freundlich-Animalisches an, eine Art ahnungsloser Affenartigkeit; hinter den ins kalte Licht gesetzten Betrachtern (Stellvertreter für uns?) schrumpft die unwahrscheinliche Figur der Erscheinung zusammen. Schwer entscheidbar ist, wer Beobachter und wer Objekt der Beobachtung, wer Bedingendes und wer Bedingtes der Szenerie ist.
In „Leibhöhle, Rotausgang“ verbinden sich Wunde und Vulva zu einer Körper-Innenschau, dessen Wärme überbietend. Aufbruch in einen anderen Körper – letztlich wird gar der Aufbruch des Bildes selbst thematisiert, er erscheint als verhinderter Aufbruch in den dreidimensionalen Raum: Eine weiße Schrunde markiert die Bruchstelle im abgerutschten Farbberg des Bildes „Volcano“.
Das Bild "Ring der Dinge, Schwaden im Streit“ zeigt im Titel eine Zweiteilung, die auch die den Bildinhalt beherrscht. Im unteren Teil sind eine Handvoll Objekte ringförmig angeordnet. In dieser Formation sind sie mal ineinander verhakt, mal schroff abgegrenzt, immer aber einer einfachen Benennung entzogen. Verbunden sind diese `Dreiviertel Dinge` durch eine aufgerichtete Säge mit den streitenden Schwaden, in deren Pinselzügen der Betrachter zwei Köpfe ausmachen kann: einen eher tumben Drachenkopf und einen kleineren in Vorwärtsbewegung begriffenen mit scharfen Zähnen. Die Schwaden im Streit sind in einer bewegten Schlaufenform gefasst, die an einen Oroburos erinnert, dem Objektensemble droht eine Wandlung in seiner Erstarrung.
Das über Eck angelegte, großformatige Bildensemble „6 Tage Container voll aufgewühlter Begebenheiten" "Rohe Dinge begraben in sich“ ist ein Dyptichon: Eine quergestellter Container trifft auf eine stehende Gitterkonstruktion. Die massiv und archaisch mit sechs hölzernen Rippen in Szene gesetzte blauschwarze Containerbox präsentiert uns ganz rechts – fast will unser Auge das Bild schon verlassen – einen Okulus, aus welchem gebündelt ein weißer Breitstrahl herausschießt. Dieser wird vom im 90°-Winkel gegengestellten Bild, welches eine Käfigsituation zeigt, aufgenommen. Aus dem richtigen Winkel betrachtet scheint es, als schieße der Energiestrahl jedweder 90°-Winkligkeit zum Trotz über Dimensionen hin geradewegs durch zwei Bildräume; in einem wird die Energie gebündelt, im anderen entfesselt sie möglicherweise ihre Kraft. Materialisiert oder entmaterialisiert dieser Energiestrahl? Nimmt er uns, was wir hätten sehen können (der Käfig ist offen) oder gibt er uns, was wir sehen können (der Käfig ist offen)?
Letztlich eint Kluges Bilder die Idee des Auf-, ja des Ausbruchs. Druck wird zu Überdruck – es wirken eben weggedrückte, vergessene, verlorene und gerade darum vielleicht angestaute Kräfte. Alles scheint sich hier zu fügen in einen großen, körperlich erfahrbaren Kreislauf aus Trennung und Verbindung, Krankheit und Heilung, sich öffnender und wieder schließender Systeme. Es ist ebenso ein Abstieg ins Defekte, wie die Offenbarung eines verstörend Unmöglichen. Dabei können und wollen Kluges Bilder nichts erhellen, exemplarisch zu sehen in dem halb wieder zugemalten Bild „Vermessung der Levitation“. Sie werfen auf, schlingen und winden sich, quälen sich empor und fallen in sich zusammen. Sie beziehen eine stoßende Energie aus einer leiblichen, dunklen Quelle. Diese Bilder sind abweisend und stehen für sich – sie zeigen sich uns verschlossen, schroff, bisweilen etwas von sich spaltweise preisgebend, das schnell als Illusion dementiert wird. Und doch steckt in ihnen ein Glutkern, ein inneres Leuchten und nichts anderes reicht für die Berechtigung ihrer Existenz. Mir scheint ganz ähnlich verhält es sich mit unserem Lebens-, ja Überlebensimpuls.
Nicht immer offensichtliche, oftmals verborgene Kräfte bedingen den Menschen und bestimmen die Bildwelten Kluges. Sie sichtbar zu machen, ist eine Sache - sie dienstbar zu machen, einen andere. Und genau an dieser Schnittstelle bewegt sich die Ausstellung PARAGONE.
Kathrin Haaßengier unterwandert nämlich die Autonomie der Kunstwerke, indem sie diese in den Dienst ihres Wirkens als Heilerin stellt. Die Verbindung von Kunstwerk und Heilung wird hier sehr wörtlich genommen. Ihre installativen Arbeiten werden so zu „Performance-Objekten“ – d.h. im Gegensatz zu den Bildern von Gustav Kluge brauchen die Arbeiten von Kathrin Haaßengier die Künstlerin selbst als Vorführende, ebenso wie uns Betrachterinnen und Betrachter als ein performativ-empfängliches Gegenüber. Erst so können ihre Kunstwerke werden, was sie sein sollen: Eine im Kunstraum probierte, im besten Fall unser menschliches Dasein fördernde, geistig und körperlich kräftigende Instanz.
Die Reibung, welche Haaßengiers Arbeiten erzeugen, liegt darin, dass es sicher nicht jedem Betrachter, jeder Betrachterin leicht fallen wird, sich auf eine esoterische Spielart im Kunstraum einzulassen. „Wenn uns auch heute das Verständnis für die seltsamen Fähigkeiten bei den Medien mangelt, so handelt es sich nicht etwa um ’Wunder‘ im religiösen Sinn, sondern um bereits ziemlich regelmäßig unter bestimmten Umständen eintretende Vorgänge derselben Art, deren kausale Gesetzmäßigkeiten uns noch zur Zeit unbekannt sind“, heißt es in Schrenck-Notzings gut einhundert Jahre altem Standardwerk über Materialisationsphänomene. Ich denke, es ist heute nicht die relevante Frage, ob es Heilwellen wirklich gibt etc. - - es reicht, sich vorzustellen, dass sich nicht alles im Leben rational erklären lässt und da kann es gerade im anarchischen Kunstraum, einem der letzten Refugien des Ausprobierens in unserer Gesellschaft, einen Versuch wert sein, den grundlegenden Schattenseiten im System Mensch (Schmerz, Krankheit und Tod), die wir nach wie vor nicht verstehen und die uns aus dem Gleichgewicht zu bringen imstande sind, mit einer Möglichkeit zu begegnen. Warum überwinden wir nicht probeweise unsere eingespurten Widerstände und lassen uns auf die Welt der Energieflüsse, Heilobjekte und positiven Lebensimpulse ein?
Kathrin Haaßengier arbeitet als Bioenergietherapeutin. Ihre Aufgaben liegen im energetischen Heilen, darin Energiefelder zu harmonisieren und via energetischer Reinigung die bad vibes von Gegenständen und Orten zu nehmen. Zu diesem Zweck hat sie Objekte entwickelt, welche mit verschiedenen Energien aufgeladen sind, damit sie in der Heilarbeit an Klienten angewendet werden. So können etwa „Einhorn Heilspitzen“ kraftvoll und beschleunigend Energie bündeln und über ihre Ausrichtung zur Harmonisierung im Raum beitragen. Für die Ausstellung „Paragone“ heißt es, feierlich über und mit Objekten in inszenierten Zeremonien Strom- und Wasser-Kreisläufe in Bewegung zu setzen, Walzen zu drehen, Kontakte zu schließen, Wendeltrepppen zur Energiegewinnung zu nutzen und über Spitzen und Säulen Kräfte zu bündeln. Zwei nach den Himmelsrichtungen ausgerichtete Becken werden durch Schläuche verbunden, Wasser zirkuliert; eine Brunnenverbindung festigt die Idee des interaktiven Lebensquells. Betrachterinnen und Betrachter werden einbezogen und können im Becken sitzend einer potentiellen Wirkung nachsinnen. Alles Gute zum Zwecke der positiven Energetisierung wird angepeilt und es liegt an uns, etwas draus zu machen (oder es wenigstens zu versuchen).
Zudem zeigt Kathrin Haaßengier Bilder ihrer „Orgoan“-Serie (der Name ist ein Hybrid aus Orgon und Organ), Arbeiten, deren Materialzusammensetzung, Stahlwolle auf Vlies, ungewöhnlich ist; auch in diesen graphisch anmutenden, amorphen Bildarbeiten definiert sie die Schichtung der Materialien als Ausdruck der Energieverstärkung.
Kommen wir zurück zum Konzept PARAGONE, dem Wettstreit der Disziplinen, der hier auch zum Wett-und Widerstreit der Konzeptionen wird. In Gustav Kluges Arbeiten werden wir durch die dunklen Bildwelten geschickt, anders als in Kathrin Haaßengiers Objektarbeiten, welche eine helle Kraft und Ruhe ausstrahlen. In der Zusammenschau zweier künstlerischer Positionen offenbaren sich die Konturen der jeweiligen Ansätze schärfer. Gemeinsam ist beiden Werkreihen ein ernster, unironischer Umgang mit dem transzendentalen Thema. Vergessene Kräfte werden aufgespürt, erweckt – sie laden uns zum Versenken ein und erinnern daran, dass nicht alle Phänomene dieser Welt verstehbar sein müssen.
Die Arbeiten von Kluge und Haaßengier treten in der Ausstellung PARAGONE in ein gelegentlich symbiotisches Zusammenspiel: hier der Abstieg ins Kaputte, Marode, Zwielichtige, allenfalls mit einem Notausgang – dort der auch anspruchsvolle Ausstieg ins Heilend-Erhellende. Hier die Feier des Mysteriums in der Rückschau – dort eine die Narration tilgende, cleane Vorwärtsbewegung. Kluges Part in der Ausstellung ist eine Art phänomenologische Bestandsaufnahme des Unwahrscheinlichen, gelegentlich Abseitigen. Haaßengiers Part das Erspüren der Energie aus der Reibung am Unwahrscheinlichen und deren Instrumentalisierung in eine auf den Rezipienten wieder positiv zurücksstrahlende Kraft; auf der einen Seite wird ihre Kunst dabei entmystifiziert und vitalisiert – auf der anderen Seite herrscht in Haaßengiers Objekten das animistische Nachleuchten der Dingwelt auf.