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Martin Klimas - Nymphenburger

Welche Welt will schon gerettet sein?

- Zu den Porzellan-Fotoarbeiten von Martin Klimas -

Es gibt Szenen, an denen sich die Augen nicht sattsehen können – nämlich, wenn der Blick auf das Unerhörte, Absonderliche, Unglaubliche trifft. Dann melden die Augen ihren Impuls, wie millionenmal am Tag, an die "Verarbeitungsmaschine Gehirn" weiter, wo diesmal allerdings kein passenden Abgleich gefunden werden kann, keine Schublade, auf der vorne Verstanden drauf steht. Kurzum: Das Gehirn schickt ein großes Fragezeichen an die Augen zurück und bittet um erneute Überprüfung der optischen Reizung; von allen Eindrücken, die täglich auf uns einprasseln, dringen nur diejenigen tiefer in unser Bewusstsein, die uns das wie auch immer motivierte Überleben sichern. Bei Gefahr klingeln die Alarmglocken, die Sinne werden geschärft, die Augen schauen zweimal hin.

Die Porzellan-Fotoarbeiten von Martin Klimas sind von einer augenfälligen Gefahr durchdrungen, denn in ihnen offenbart sich das janusköpfige Wesen der Zerstörung; die Bilder zeigen Porzellanfiguren verschiedener Manufakturen, Epochen und Kulturkreise in eben jener entscheidenden Millisekunde, in der sie von der Allgegenwart ihrer eigenen Verwüstung durchdrungen sind: Körper explodieren, Gliedmaßen fliegen durch die Luft, Sockel, Füße, Rümpfe zerbersten, Splitter wirbeln umher – nüchtern und sachlich vor hellem Hintergrund in Szene gesetzt wie in einer Werbefotografie. Fasziniert wohnt man diesen "makellosen Vernichtungen" bei; irritiert, welche Würde und Schönheit es in der völligen Zerstörung zu entdecken gibt.

Gotthold Ephraim Lessing erläutert in seiner Schrift "Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie" wie in der antiken Laokoonstatue der Moment der alles entscheidenden Wendung steckt. Und wie aus dem einen, dargestellten Moment die ganze dramatische Geschichte abzuleiten ist. Von derlei laokoonhafte Momenten sind Martin Klimas Fotografien durchsetzt, ein irres Gleichgewicht aus Unversehrtheit und Zerstörung, aus Ordnung und Chaos hält die Bilder zusammen; noch ist die Vorstellung ihrer Ursprünglichkeit ablesbar – schon ist der Gang in den Schutt in sie eingeschrieben: Sie sind Metaphern auf das Leben selbst, ein barockes Lüftchen umsäuselt den Betrachter: Alles ist vergänglich!

Es ist, als wären Klimas Bilder Illustrationen von Francois Lyotards These vom Ende aller großen Erzählungen; jedes dieser Bilder erzählt hierbei das Ende einer ganz eigenen Geschichte: Da ist der edle Reiter, dem das Pferd versagt, weil es ihm unter den Füßen explodiert, das lustige Mädchen in rosa, dessen Ausflug mit Rüschenschirmchen plötzlich zur Verheerung führt, der drollige kleine Musikantenjunge oder zwei Vöglein auf einem Rosenast, welche wie sich in ihrem unschuldigen, idyllenhaften Ausdruck inmitten des folgenden Vernichtungs-Szenarios besonders kontrastreich ausnehmen. Oder es gibt die zu Porzellan erstarrten asiatischen Kampfkunstszenen, in denen bis zu neun miteinander verstrickte Mönche im Gefecht sind; solch eine Kampfszene im Ganzen zu zerstören, dramatisiert auf der einen Seite das Kampfgeschehen ins Unermessliche (wenn Rümpfe und Arme mit den Splittern umher fliegen), während es auf der anderen Seite zu einer abstrakten Überhöhung kommt. Gegen den metaphysischen "Überkampf" können selbst hartgesottene Kampfnaturen nichts ausrichten. Der Staub macht keine Gefangenen. Er nimmt alles mit.

Die Versuchsanordnung für diese Fotos sieht wie folgt aus: In einem Studioaufbau wird eine digitale Mittel- bzw. Großbildkamera an ein Mikrophon und einen Schallauslöser gekoppelt; daraufhin werden die Porzellanfiguren jeweils aus drei Meter Höhe fallen gelassen – sobald eine Figur auf den Boden schlägt, liefert der Crash ein zuverlässiges Signal für die Auslösung des Bildes; die Verschlusszeiten changieren zwischen einer 7000stel. und 4000stel. sek. – Detailfotos belegen, wie genau mit dieser Technik der Moment des Zerschmetterns festgehalten werden kann: Neben umherfliegenden Bruchstücken sind noch die kleinsten Splitter, ja Staubkörnchen messerscharf abgebildet. Das digitale Bild wird daraufhin mit den üblichen Retuschen am Computer bearbeitet; Flecken korrigiert, Farben, Helligkeit und Kontrast entsprechend nachbearbeitet. Am Ende steht ein Abzug der Größe 110 x 150 cm, bzw. 150 x 200 cm.

Martin Klimas Konzept ist wie geschaffen, um dem Medium der Fotografie einen glanzvollen Auftritt zu bescheren: Es liefert den Betrachteraugen gestochen scharfe Bilder von einem explosiven Prozess, der in seiner Dynamik normalerweise allein über die Wahrnehmung mit den Augen nicht fassbar ist; keine Ölmalerei, keine Skulptur, keine Videoproduktion hätte die Möglichkeit, einen derart genauen Fingerabdruck der Zerstörung wie unter der Lupe zu präsentieren.

Auslösung und Auslöschung fallen in dieser Coincidentia oppositorum zusammen; die reale Zerstörung der Figuren dient letztlich ihrer (vor)bildlichen Auferstehung, ihr serieller Trashcharakter gerät damit zu einer faszinierenden Einmaligkeit; die Botschaft dieser Bilder spricht eine deutliche Sprache: Nicht im grazilen Objekt, nicht in der Zerstörung selbst liegt das Heil, sondern in der beides verbindenden Kunstform des Fotos selbst: eine artifizielle Überhöhung der Kunst über das Leben.

Der für die Fotoarbeiten verwendete Werkstoff Porzellan ist die wunderbarste Verkörperung des apollinischen Prinzips: getragen von der Idee der Zerbrechlichkeit, voll vom schönen Schein, ein heller, erhabener Traum – der in die Fänge einer grausamen Enthemmung gerät, in einen Rausch, der sich dem Ausbruch einer dunklen Urkraft hingibt, dem dionysischen Prinzip. Nietzsche hat die beiden Kategorien apollinisch vs dionysisch einst als Instrument zur Kunstbetrachtung entwickelt; hier geraten sie in eine yin-yanghafte Verwicklung und bedingen sich gegenseitig, "spielen" miteinander.

Die schöpferische Zerstörung galt nicht nur Nietzsche als ein notwendiges Konzept, um etwas Neues zu entwickeln; hier lässt sich eine weitere interessante Klammer aufmachen: Nietzsche instrumentalisierte den Begriff der schöpferischen Zerstörung, um ökonomische Zusammenhänge zu verdeutlichen: Erst durch die Zerstörung von alten Strukturen werden, so Nietzsche, die Produktionsfaktoren wieder neu geordnet. Der Prozess der kreativen Zerstörung ist also notwendig, damit eine stete Neuordnung stattfinden kann – und das ist das eigentliche kapitalistische Wesen. Betrachtet man vor diesem Hintergrund Martin Klimas Arbeiten, die sich den Mitteln der Werbeästhetik (also der Triebfeder des Kapitals) bedienen, so kommt eine paradoxe Umdrehung hinzu, da in den Porzellan-Fotoarbeiten ja Werbung für die Autonomie des künstlerischen Schöpfungsaktes gemacht wird. Damit diese Botschaft möglichst weit ins öffentliche Bewusstsein dringen kann, macht der Einsatz der Werbeästhetik besonderen Sinn.

Natürlich wohnt man im ersten Impuls gern einer modellhaften Zerstörung bei; möglicherweise, um eine (schützende?) Erkenntnis wider die eigene Zerstörung mitzunehmen. In den Porzellan-Fotoarbeiten von Martin Klimas steckt eine metaphorische Bedeutung: Sie stellen schließlich die eine wesentliche Frage an die Betrachter: Betrachtet man diese Bilder mit Schrecken oder Lust? – Wer seiner Umgebung nicht traut, wer auf Sicherheitsdenken aus ist, bei dem werden diese Bilder Reaktionen wie Angst oder Feindseligkeit hervorrufen. Wer hingegen seiner Umgebung traut, das Risiko zu wählen bereit ist (weil er es sich leisten kann = wieder aufgefangen wird), reagiert mit Interesse und Wohlgefallen. Das Gleichgewicht aus Chaos und Ordnung ist die eigentliche, an die Betrachter weiter gegebene Herausforderung der Bilder. Es lässt sich auf diese Formel bringen: Wer sich für das Risiko entscheidet, akzeptiert auch das Chaos. Wer sich für die Sicherheit entscheidet, sucht vor allem Ordnung. Klimas Bilder lassen sich nicht in einem gut (= Konstruktion) / böse (= Zerstörung)-Schema auflösen. Sie stehen wie der Forschritt selbst da: voll von Kraft, Schönheit und hinfälligen Momenten, bereit, etwas Neues beginnen zu lassen.