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Olrik Kohlhoff, Skelett, Tuschezeichnung, 2009


Bevor wir verschwinden

- Anmerkungen zu den Zeichnungen von Olrik Kohlhoff -

Menschen, Tiere, Landschaften, dazu Konsum- und Kulturprodukte – in Olrik Kohlhoffs Zeichnungen steckt etwas Zielgerichtetes, das die mit den Sinnen wahrnehmbare Erscheinungsform der Dingwelt zu fassen sucht.

Doch mit der bloßen Abbildung ist es nicht getan, es gilt den Mehrwert hinter den Erscheinungen, ihr Geheimnis, ihre Aura mit aufs Papier zu bannen. Also wird, was eben noch mehr oder weniger akribisch in Form einer Zeichnung der „Wirklichkeit“ nachgeschöpft wurde, wieder verschleiert und mystifisziert. Was sich als Abbild der Dingwelt offenbart, hier erscheint es inszeniert: beginnend bei der oft impulsiv erfolgenden Auswahl der Objekte führt diese Praxis über das Verwerfen gewohnter Kontexte bis hin zu beigemengten Textkommentaren, die das Bild komplett dominieren können.

Das Gewohnte scheint in einem neuen Licht auf. Es genügt nicht mehr, bloß eine Stimmung zu erzeugen – im Gegenteil, eine andere Schule des Sehens wird in den Bildern Olrik Kohlhoffs propagiert, eine, die am Allgemeinen das Besondere, am Grundsätzlichen das Einzigartige beispielhaft herausstellt. Minimale Entfremdungen reichen bereits aus, um Wirkung zu erzielen: wie anders schaut man die Frontalansicht eines (einem Foto von August Sander entlehnten) Vagabunden an, der anstelle des Gesichts die halblangen Haare des Hinterkopfes aufweist - - ein Effekt, der wie ein Verstärker wirkt, denn sowohl den Vagabunden, wie auch dessen Haar nimmt man auf diese Weise in einer Art doppelter Wahrnehmung doppelt intensiv wahr. Ein Trick, auf dem der belgische Surrealist René Margritte sein Werk gründete: Was man nicht glauben will oder kann, studiert man besonders intensiv und die studierten Objekte wollen zur Erzählung werden, doch sie lassen sich nicht in eine bündige Erzählung auflösen.

Die in Kohlhoffs Bildwelten anklingenden surrealistischen Verfahren werden, auch das ist einer ihrer Wesenszüge, zudem postwendend versachlicht, indem sie sich in den Dienst der Anspielung und des Kommentars stellen. Überhaupt sind, ob gewollte oder nicht, kunsthistorische Winke in den Zeichnungen Legion: Da sind Comic- und Pop-Art-Zitate, profane oder historische Architekturauswüchse, Konrad Klaphek-artige Maschinenkörper, humoristisch den Bildgegenstand unterwandernde Textkommentare à la Kippenberger, freche Kritzeleien, wie sie die Berliner Gruppe Endart in den 80er Jahren populär machte, dann wieder getuschte Szenarien wie der Birkenwald, durch den der Rauch eines Feuers zieht, bei dessen Betrachtung sich sofort ein wohltuendes Horst-Janssen-Gefühl einstellt – hier zeigt die Zeichnung, was sie kann: schnell sein, dabei sein, leicht sein, flexibel sein, visionär sein, Randbemerkung sein, frei sein.

Das dem familiären Lebenstakt des manischen Zeichners Kohlhoff angepasste, unterschiedliche Tempo, das aus den Zeichnungen spricht, verdient ein besonderes Augenmerk: Der völlig akribisch inszenierte Moment, der an sich zauberhaft ist wie der von Daumen und Finger, die eine tote Schnake halten, wird ohne Kommentar, präzise auf einem großen Blatt gefasst - - während die skizzenhaft hingeworfenen Kritzelzeichnungen von begleitenden Kommentaren getragen werden; je spontaner eine Zeichnung aufblitzt, umso dominierender scheint der Kommentar, der sie trägt - - bis hin zum Kommentar selbst, der keiner Zeichnung mehr bedarf (sie stellt sich ohnehin im Kopf des Betrachters ein) – das Wechselspiel zwischen Literatur und Kunst ist eröffnet. Was das Bild nicht zeigt, zeigt der Text – was der Text nicht zeigt, zeigt das Bild - - bis hinein in die nächste, modellhaft vorgeführte Dimension, wenn die Zeichnungen zu colorierten Keramiken werden.

Die Bandbreite des Zusammenwirkens von Text und Bild, von Titellosigkeit, Betitelung und Kommentar wird hier ausgereizt. Auffällig ist die Inszenierung der Texte selbst im Bild, das Spiel um Titel und Typographie.

Bisweilen wird der Titel im Bild als Reibungsmoment, ja als aggressives Bildelement inszeniert, wenn sein Text, in der Typographie modern und künstlich – und im krassen Gegensatz zum Benannten und Bezeichneten – erscheint: etwa beim Bild PUPS – in dem der Heilige Geist in Form einer weißen Taube explosionsartig vom Boden aufsteigt. Auch hier wieder das Programm: Dinge zusammenzubringen, die nicht zusammen gehören.

Auf eine andere, ebenfalls anregende Art augenfällig ist dies beim Bild JA – einem aufrechten Oval von schöner Farbigkeit; erst beim zweiten Hinsehen offenbart sich die ungewohnt vertikale Ausrichtung des Horizontes, in dem die Sonne als kleiner roter Ball über dem Meer untergeht: der rote Punkt, normalerweise im Kunstbetrieb als Zeichen eines erfolgreich verkauften Bildes im Einsatz, erscheint zweckentfremdet und doch als etwas viel Eigentlicheres, als ein sonniger Bildgegenstand, der Farben Farben sein lässt. Wer Überinterpretationen mag, könnte auf die zynische Idee kommen, dass erst das Geld die Kunst generiert. JA: Schwerkraft und Sehgewohnheit sind aufgehoben in einem irrealen Moment, in dem die Schönheit auf eine ungewöhnliche Weise erstarrt scheint.

Das große Thema, das alle Zeichnungen von Olrik Kohlhoff eint, ist die Flüchtigkeit: Manches ist flüchtig gemacht, manches flüchtig gedacht, wieder anderes als flüchtige Erscheinung in Szene gesetzt. Viele der Zeichnungen richten sich gegen die Achtlosigkeit, mit denen der Mensch Phänomene und Produkte als belanglos abtut. Das noch einmal aufgefaltete yogurette-Schokoriegel-Papier, hier wird es ernst genommen und als Bildgegenstand denen, die es achtlos in den Mülleimer werfen, erneut vor Augen geführt.

Der Krieg gegen die arrogante Achtlosigkeit der Menschen ihrer Umwelt gegenüber – hier wird er gefochten; arrogant deshalb, weil sich der Mensch mit seiner Lebensspanne ebenfalls wird fügen müssen in den Lauf der Welt, verschwinden wird, wie jedes Blatt, jede Raupe, jeder sorglos zertretener Plastikkaffeebecher am Straßenrand. Demut fordern diese Zeichnungen, Demut und Achtung vor dem, was uns umgibt, und über dem wir erhaben drüberzustehen glauben.

Der in der Kunstgeschichte so fest verwurzelte Vergänglichkeitsgedanke, im Werk von Olrik Kohlhoff erhebt er sich. Sinnfällig steht er da wie in dem Bild des Skeletts, das mit beiden Beinen aufrecht im Meer der untergehenden Sonne entgegensteht. Es steht auf sandigem, von Wellen bewegtem Boden, verloren im scheinbar endlosen Element des Lebens, im Wasser. Offen scheint es dem Licht am Ende des Horizontes, der untergehenden Sonne hinterher zu gucken. Ein Sehnsuchtsmotiv. Nur: Wonach sollte der Tote oder gar der Tod selbst eine Sehnsucht entwickeln?

Den menschengleich agierenden Knochenmann kennt man aus der Kunstgeschichte nur zu gut. In den Totentänzen ist er der lachende Begleiter der Menschen, der vom Kaiser bis zum Bettelmann jeden umgarnt und umtanzt, bester Laune, denn er weiß, er kriegt sie alle. Doch im Bild von Olrik Kohlhoff ist dem Tod kein Mensch mehr beigesellt und aus dem wilden Tanz ist eine ergebene Haltung geworden. Nur das Sonnenlicht kann noch als Gegenüber gelten. Selbst du, scheint der Knochenmann, im Wasser stehend, zu sagen, wirst irgendwann für immer untergehen. Und wenn die Sonne auf ewig erloschen, das Wasser zu bleibendem Eis erstarrt ist, wird es auch keinen Tod mehr geben, denn wo kein Leben, da kein Tod - - all dies stimmt melancholisch und passt zur ungeheuren Tragweite dieses so scheinbar einfach in Szene gesetzten Bildinhaltes. Hier wird an der Würde der Ewigkeit gekratzt – mit einer ergreifenden, das menschliche Denken sprengenden Dimension.

Was wir brauchen – und wir bekommen es von den Bildern Olrik Kohlhoffs – ist die erschütterbare Stärkung unseres Blicks, damit wir lebensintensivierend auf uns selbst einwirken können, uns ein Ja: Wir leben! zuflüstern – bevor wir verschwinden.