Gedanken zur Freien Kunst samt ihrer Lehr- und Lernbarkeit


Dieser Moment, der mir erst wieder einfällt, wenn ich ihn erneut erlebe: Ich habe mich aus der Welt des täglichen Funktionierens für eine gewisse Zeit hinauskatapultiert, bin in eine Kunstausstellung gegangen, habe an der Kasse bezahlt, durchgeatmet und bewege mich nun auf die Schau zu – ohne genau zu wissen, was mich erwartet. Es ist der Moment, in dem etwas mit mir passiert, ein mentales Kitzeln; die Sinne spreizen sich, in Erwartung bespielt zu werden, auf.

Damit dieses Gefühl möglich wird, hat man weltweit riesige Bauwerke geschaffen, die in der Lage sind, Kunstwerke aller Gattungen zu beherbergen und zu präsentieren, eben auch für den Fall vorzusorgen, dass ungewöhnliche Größen- oder Materialverhältnisse bewältigt werden müssen. Hier summiert und formiert sich Kunst, um auf herbeigepilgerte Betrachter einzuwirken. Und obwohl die Kunst der letzten Jahrhunderte beständig an der mittlerweile globalen Säkularisierung mitzündelte, ist ihre geballte Präsentation wieder genau dort gelandet, von wo sie einst in die Welt auszog: im sakralen Raum, der mit klaren Verhaltenkodizes (Nicht laut sein! Nicht rennen! Nichts anfassen!) belegt ist. Der offizielle Kunstraum von heute ist ein Tempel, in dem Freies und Ungewöhnliches möglich ist. Das Programm dieses Tempels ist seine Stärke, denn es ist nicht aufs übliche Nachbeten von Irgendwas ausgerichtet, sondern darauf, zu erbauen und/oder zu verstören. Wie breit das Spektrum künstlerischer Impulse ist, können die ermessen, die von einem monochromen Großbild des Amerikaners Barnett Newmans stehen und einen Raum weiter gehen, um die auf Fotos kredenzten Exkremente der Wiener Künstlerin Elke Krystufek zu betrachten. Es sind diese Momente überraschender Konfrontation, die den Erlebniswert von Kunstsammlungen bzw. konzipierten Ausstellungen ausmachen können; unterschiedliche Haltungen zu unterschiedlichen Zeiten treffen hier wie Welten aufeinander.

Aristoteles hat in seiner Metaphysik das Staunen als Impuls für das philosophische Denken bezeichnet: Alles beginnt mit der Verwunderung darüber, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Und da der Mensch sich seit jeher mental zu verorten sucht, sind kritisch-rationale Selbstüberprüfungen, wie sie geballt im Kunstraum stattfinden können, willkommene Anreize, die Deutung der Welt samt der eigenen Existenz darin zu reflektieren. Aktuelle Kunstrezeption ist darauf ausgerichtet, gedanklich nicht (noch weiter) einzurosten, die vorgetretenen Denk- und Tolerenzpfade modellhaft einige Betrachtungsminuten lang zu vertiefen oder zu verlassen, um an neue Ufer zu gelangen, von denen aus man wieder in andere Welten übersetzen kann; kurz: es geht ums Überprüfen und gewinnen von Erkenntnissen und Positionierungen. "Nicht ans gute Alte anknüpfen, sondern ans schlechte Neue." Brechts freche Maxime mag hier als Katalysator gelten.

Für die Künstler bedeutet das, sich auf die Suche nach etwas Aussagenswertem zu begeben. Wenn die Phänomene des Lebens wie eine große Kachelwand um uns herumstehen würden, dann wäre es die Arbeit der Künstler, die Kachelwand mit dem Knöchel abzuklopfen, um die hohl klingenden Kacheln ausfindig zu machen und die dahinter liegende Leere sichtbar mit ihrem Querschlägertum auszustopfen. Der von den Massenmedien noch nicht völlig abgestumpfte Mensch braucht die Kunst als Stimulus, um mit sich und anderen zu kommunizieren. Er braucht die alte Kunst, um zu wissen, was alles passieren musste, um zum heutigen Punkt gelangt zu sein, also die Wo-komme-ich-her-Frage zu klären; er braucht die aktuelle Kunst, um zu ahnen, wohin die Reise gehen kann und ein Gespür für die komplexen, oft unterschiedlichen Ansichten der Gegenwart zu bekommen.

In der Summe künstlerischer Positionen zeigt sich die Vielzahl von Perspektiven über die Welt und ihren Zustand. Auch hier ist jeder eingeladen, seinen Standpunkt zu finden. Der Betrachter verortet sich, ob er will oder nicht, noch während er Kunst rezipiert. Ein ans Kreuz genagelter Frosch von Martin Kippenberger ruft andere Assoziationen hervor als ein akribisch in einer Jahresleistung erarbeiteter Riesen-Holzschnitt von Frantz Geertsch, der "lapidare" Grashalme zeigt. Hier ist meditativ etwas nachgeschöpft worden, während dort mit einer provokanten Haltung ein religiöses Symbol geschändet wurde; ein Holzschnitt von Geerts fordert einen tiefen Glauben an den Ernst der Sache ein, während man bei einem Objekt von Kippenberger befreit auflachen kann, eben dann, wenn sich Hochgehängtes relativiert. Auch das tut gut. Kunst hat die Kraft und die Macht, im Rezipienten die Einstellung für eine Korrektur zu schärfen.

Um diese Macht nutzen zu können, braucht der, der sie ausüben will, zwei Dinge: Zum einen ein unbedingtes Wollen, einen "Killerinstinkt" und zum anderen ein Programm. An diesem Punkt kommen die Kunsthochschulen ins Spiel, deren Aufgabe es ist, den Studierenden "ein Angebot zu machen, dass sie nicht ablehnen können", wie es in Der Pate heißt; hier haben Lehrwillige die Chance, einen Bezug zu ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten zu bekommen, sich zu orientieren, zu positionieren und ihr Programm auf den Weg zu bringen. Den "Killerinstinkt" jedoch gibt es nirgends zu lernen; entweder man ist von ihm durchdrungen oder nicht; Kunst kommt von innen heraus, beginnt zu drücken – und macht die Macher zu Sklaven ihres Sendungsbewusstseins.

Autodidakten arbeiten eigenständig, ohne jemandem irgendetwas zu schulden; sie wissen nichts, wozu sie nicht von Lust und Bedürfnis getrieben wurden und was sie nicht fühlbar Mühe gekostet hat. Diesen Zustand gilt es während des Studiums zu verteidigen, um nicht in eine Falle zu geraten, nämlich die, dies oder das zu lernen und zu tun, ohne zu erfahren warum oder wozu.

Kinder fragen warum. Die Schule kuriert in der Regel diesen Instinkt und ersetzt Neugier durch Langeweile, Auswendiglernen und Zwang; die Lehrkörper sind dabei auf ein reibungsloses Funktionieren ihrer Methoden der Leistungsmessung angewiesen. So werden Stoffe im Klassenkollektiv nachgebetet und wiederdergekaut. Wer die Kraft hat, sich während seiner Adoleszensphase von diesem Zwang zu befreien, um wieder an seine kindliche Neugier anzuknüpfen, macht einen Schritt in Richtung eines selbstbestimmten Lebens; hier sind wir wieder bei Aristoteles Staunen als Urgrund aller Erkenntnis. Wer darüber hinaus das Bedürfnis verspürt, sich künstlerisch auszudrücken (nun gibt es ja bereits etwas, das sich auszudrücken lohnt: nämlich die neu gewonnene Freiheit und die sie begleitenden Umständen zu reflektieren und nach Außen zu tragen = zur Diskussion zu stellen) ist nicht selten bereits auf dem Weg in Richtung Kunsthochschule. Generell gilt: wer sich für einen Studienplatz an einer Kunsthochschule bewirbt, sollte in der Lage sein, mittels einer Mappe Interesse an Arbeit und Person zu wecken; der Funke springt dann über, wenn die Prüfungskommission spürt, dass es den Bewerbern um eine ganz persönliche Angelegenheit geht – dass also das Wissen, das sich die angehenden Studenten im Rahmen ihres Kunststudiums aneignen werden, eine entscheidende Rolle in der Geschichte ihres Lebens spielen kann.

Die Institution der Kunsthochschule spannt für die Dauer des Studiums einen Schutzschirm auf, unter dem die eigenen Abgestumpftheiten geschliffen, gesellschaftliche Zusammenhänge erkannt, die Persönlichkeit geschärft und die beschwingte Freiheit den sie bespielenden Geist bekommen kann. Die neuformierte Muthesius-Kunsthochschule hat sich dafür eine frische Ausrichtung zum Ziel gesetzt, um den Aufgaben und Herausforderungen der modernen Mediengesellschaft gerecht zu werden. Bachelor- und Masterstudiengänge wurden eingeführt, die Studiengänge via Modulsystem gestrafft und interdisziplinäre Grenzüberschreitungen ausdrücklich als wünschenswert erklärt. Der Komplexität heutiger Lebensrealitäten wird zudem mit einer Stärkung des Medien- und Theoriebereichs begegnet. Den jeweiligen Professoren der einzelnen Fachbereiche der Freien Kunst kommt damit eine besondere Aufgabe zu: Sie vertreten einerseits durch ihre fachliche Kompetenz die Einmaligkeit, den "Zauber" ihrer Bereiche; zudem bieten sie den Studenten, die sich in ihrer Klasse sammeln, einen gattungshermetischen Schutzraum, in welchem sie vor allem das eigenverantwortliche Arbeiten über einen längeren Zeitraum verfolgen können. Laissez-faire bleibt unersetzbar. Andrerseits wird eine Durchdringung dieser Schutzräume von innen und außen zwecks Austausch im Sinne der Interdisziplinarität gewünscht. Über den Tellerrand seiner eigenen Disziplin zu gucken kann nur von Vorteil sein, selbst, wenn man sich hinterher (bitte mit guten Gründen) wieder davon zurückzieht und seinen Tellerrand als Horizont gutheißt. Viele-wissen-Vieles-von-Vielem steht Wenige-wissen-Alles-vom-Wenigen gegenüber. Was zum Schaffen von Kunst die bessere Position ist? Niemand weiß es. Jedenfalls erfordert die Durchlässigkeit gegebener Schutzräume von den Professoren ein besonderes Augenmaß.

Kurzum: alle, Studenten wie Professoren der Freien Kunst haben sich in einem produktiven Austausch mit nicht enden wollenden Konkurrenzsituationen in alle Richtungen zu arrangieren. Was im Umkehrschluss bedeutet, als dass dieser Studiengang starke Persönlichkeiten verlangt; ohne die ist ein späteres Überleben als freier Künstler in der Gesellschaft ohnehin nicht möglich.

Ein interessantes Gedankenfeld ist der von der Kunsthochschule bescheinigte Glaube an die Bewertbarkeit von "freier" Kunst via Diplom; die Institution braucht diese Bewertungskategorie, um sich nach allen Seiten hin legitimieren zu können. Davon sollten sich die Kunststudenten nicht abschrecken lassen. In der Kunst geht es um vieles, ums Funktionieren für andere sicher nicht immer; im Gegenteil: Viel wichtiger ist es, jenseits scheinbar allgemeingültiger Bewertungskategorien einen Standpunkt zu finden, sich vom eigenen Wollen und Wirken durchrucken zu lassen und im übrigen in der eigenen Kunst zu machen, was man will, eben wirklich einmal frei zu sein. Es genügt, das ist meine Ansicht, schon im "normalen" Leben einigermaßen ok zu sein und klarzukommen; das muss man nicht auch noch in der Kunst tun, im Gegenteil: hier gilt es, die konventionellen Limits und Gut-/Böse-Kategorien einfach aushebeln zu können, um Sand im Getriebe (des Betriebs) zu sein. Dieses Studium ist auch: für alle, die Energie genug haben, ihre Sache zu machen und rücksichtslos durchziehen zu wollen; für alle, die es sich überlegen wollen, ob sie Scheuklappen brauchen oder nicht; für alle, die den Mut zur Ignoranz haben und für die Distanz das richtige Mittel sein kann. Es gibt kein Rezept. Das sollte jeder wissen. Und die Möglichkeit dies während eines durchlebten Kunststudiums zu erkennen kann schon eine der großen Qualitäten des Studiums sein.

Freilich kann es Folgen haben, sich als Einzelgänger vom großen Mitmachenwollen, dem allgemeinen Networking zu distanzieren, denn hier wird die Saat für Preise, Stipendien und Förderungen gesät. Der Kieler Maler René Schoemakers brachte das Zusammenspiel seiner Künstler- und Brotexistenz folgendermaßen auf den Punkt: "Unfreiheit ist der Preis der Freiheit, machen zu wollen, was man will. Freiheit, wenigstens manchmal machen zu können, was man will, der Lohn der Unfreiheit." Freiheit ist eben Freiheit und manchmal hat sie ihren Preis. Im schwärzesten Fall gilt übrigens immer noch die Sentenz von Anfried Astel: "Ich hatte schlechte Lehrer./ Das war mir eine gute Schule." Also immer wieder, auch wenn die Lehrer Angst davor haben: Den Krausköpfigen gehört die Welt! Noch einmal zurück zu den Sonnenseiten der Kunstrezeption. Schaut man durch die gängigen Kunstbulletins nach der Frage, was an der Gegenwartskunst entzückt, so sind die Antworten ebenso mannigfaltig wie erhellend. Es sind die Momente, die in mir diesen nervösen Kitzel verursachen, wenn ich eine Ausstellung betrete, ohne zu wissen, was mich genau erwartet; ich bringe sie in eine kleine Aufzählung: Kunst kann bis zum Äußersten, ja sogar über Leichen gehen, Schmerz- und andere Grenzen überschreiten, schockieren, provozieren, polarisieren. Kunst kann aber auch genau das Gegenteil tun: etwa fernöstliche Philosophie und westlichen Minimalismus miteinander verbinden, Konzentration und Stille fokussieren und unter Verwendung sparsamster Mittel einen Impuls gegen die Schnelllebigkeit unserer Zeit setzen. Kunst kann sich dezidiert in gesellschaftliche Zusammenhänge mischen, den Alltag erforschen, neu- und anders beleuchten, aus- und aufwerten, Nationen in den Focus rücken, das Verhältnis der Geschlechter untersuchen, mit authentischen Material arbeiten oder aus sozialen Bereichen berichten, von denen ich als Rezipient keine Ahnung habe: Teenieträume, Privatsphären und die Bruchkanten unserer Zivilisation zählen dazu. Kunst kann die intimsten Zugeständnisse öffentlich machen, kann sich selbst reflektieren, chaotisch, kindlich, abgeklärt, offen oder geschlossen für Zufälle sein. Die Frage steht im Raum, ob es etwas gibt, das Kunst nicht sein kann – oder ob letztlich alles eine Frage der Definition ist: Der Kunstraum ist ein Raum, in dem alles möglich bleibt. Es geht nicht mehr bloß um Schönheit, es geht um Aufregung und Bewegung von Menschen. Ich habe lange gebraucht, bis ich das verstanden habe. Und ich prüfe es immer noch, immer wieder, in jeder neuen Betrachtung eines Kunstwerks. Und ich bin heilfroh, dass es mein Programm ist, keins zu haben. Das hat mich, als ich es wusste, unendlich erleichtert; denn so bleibt auch für mich weiterhin alles möglich.


(In: 100 Jahre Muthesius Kunsthochschule (Hrsg. Norbert Schmitz), Muthesius Kunsthochschule Kiel 2007.)