Wo bitte ist ihr Lyrikregal?
Poesie muss sich ihren Platz in der Wahrnehmung des Publikums immer wieder aufs Neue hart erkämpfen. Innenansichten eines Dichters im Jahr 2015.Poesie hat es bekanntlich schwer. Große Verlage winken beim „Zuzahlgeschäft Gedichtband“ gern ab – „Man plane keine weitere Lyrikexpansion“, heißt es süffisant. Klassische Dichterlesungen mit Wasserglas auf dem Tisch sind selbst in Großstädten lediglich von maximal zwei Dutzend Zuhörern älteren Semesters frequentiert. Und vermutlich werden auch sie bald als unrentabel und widerhallsfrei von den Programmmachern zum Vertrocknen gebracht … Man schaue nur auf die Zahlen…
Auf dem Buchmarkt kommt die Lyrik kaum mehr vor. Ist jemand von Ihnen mal mit der Lyrik-Brille über die Buchmesse gegangen? Gibt es da noch irgendetwas aus dem Hause Lyrik, das, wenn schon nicht Bling-Bling macht, so doch wenigstens irgendeine Relevanz in der allgemeinen Wahrnehmung aufweist? Gibt es in den Feuilletons noch ausreichend Lyrik-Spezialisten, die sich kenntnisreich mit Verve und Wumm in die Bresche werfen und auch mal draufhauen, wenn es zu kryptisch, zu weltfern, zu artig, verquarzt oder sonstwie unpassabel daher kommt? Es muss ja nicht immer alles, was schwer fassbar ist, übersehen, bzw. weggelobt werden. Eine lyrische Streitkultur könnte viel fruchtbringender sein, um die Gattung mal wieder ins Gespräch zu bringen.
Wenn ich einen Buchladen betrete, ist meine erste Frage: „Wo bitte ist ihr Lyrikregal?“ Darauf schauen mich die jungen Buchhändlerinnen aus ihren modischen Nerdbrillen eine Sekunde zu lang an. Kurz: Es wird alles dafür getan, die Lyrik zu marginalisieren, der Druck der monetären Daumenschrauben kennt kein Halt; plattgemacht wird, was keinen Profit abwirft, basta, Ende, aus.
Für mich ist das keine neue Erkenntnis. Ich schreibe seit 30 Jahren Gedichte und gehöre zur Zunft der Unerschrockenen. Mir ist klar, dass Gedichte vogelfrei sind und ich belächelt werde, weil ich Gedichte schreibe. Poesie ist etwas, dass keiner mehr will. „Wann schreibst du denn mal wieder einen Roman?“ heißt es unverhohlen beim Schulterklopfer im Literaturbetrieb. „Ich hoffe nie mehr“, möchte ich entgegnen, doch ich verkneife es mir lieber. Stattdessen gebe ich als Berufsbezeichnung „Dichter“ an, egal ob es peinlich ist oder nicht. Ich will einfach, für alle sichtbar, das große „D“ auf der Stirn tragen.
Genug gejammert, zurück zum Wort vogelfrei und zur Zunft der Unerschrockenen. Vermutlich gibt es kein bezeichnenderes Wort für meine Haltung als dieses „vogelfrei“. Man muss sich im alltäglichen Leben genug anpassen, Kompromisse eingehen, sich den allgemeinen Programmatiken des Funktionierens unterwerfen, um das System zu bedienen und zu überleben. Damit habe ich auch kein Problem und mir eine leicht glitschige Freundlichkeit samt kleinbürgerlichem Wattepanzer zugelegt, um einigermaßen reibungslos klar zu kommen. Nur: dieses Ich-will-funktionieren-Ding muss man nicht auch noch in der Kunst, der Dichtkunst haben. Sehen wir es mal so: Niemand schaut auf uns – wir sind völlig unbeaufsichtigt, können machen, was wir wollen, flattern, unfassbar und unkommerziell sein, alles mal anders, einfach von oben betrachten (bevor man abstürzt). Übersicht? – Vielleicht. Gewaltig sein? – Nein danke. Was die Rezeptionsseite angeht, ist man eben niedlich und sagt „Piep!“ (zu gern möchte ich mir dieses Piep als das von einem Vierzentnerspatz vorstellen!) - - Welch wunderbarer Freibrief!
Obwohl ich schon immer danach gehandelt, also geschrieben habe, ist mir erst in den letzten Jahren bewusst geworden, dass es mein lyrisches Programm ist, keines zu haben. Dass eben das entgrenzte Poetisieren mein großes Abenteuer und eine Riesenchance ist. Einfach jedwede lyrische Programmatik beherzt über den Haufen werfen und: machen, tandaradei! Und also schreibe ich Erzählgedichte und Einwortgedichte, gereimte und ungereimte Gedichte, lustige Gedichte und Gedichte mit düsterer Schlagseite, lasse mich in Sprachspielen treiben, bringe klare und unklare Gedanken ein, verstehe manchmal, was ich da tue und lasse zu, es manchmal nicht zu verstehen (ich will ja über mein Schreiben auch noch etwas über mich selbst lernen dürfen). Ich erfinde neue lyrische Formen und bediene alte, schreibe Naturgedichte und visuelle Poesie (bisweilen gleichzeitig), schreibe Gedichte, die in Büchern gedruckt werden, schreibe Gedichte, die ich drei Meter groß an die Wand stenzele, schreibe Gedichte, die in Marmorblöcke gehauen werden; schreibe Gedichte für den Kunstraum, für Wasserglaslesungen, für Klassenzimmer. Wichtig ist mir nur: Dass ich Gedichte schreibe, in denen ein, in denen mein Feuer brennt – und ich hoffe dennoch, etwas zum Lodern zu bringen. Mission Poesie.
Als phantastisch hat sich dabei das Gedichteschreiben für Kinder erwiesen. Es entstand aus einem Zufall heraus; meine Tochter fragte mich vor einigen Jahren, was ich denn eigentlich beruflich mache. Ich bin Dichter, sagte ich, und erklärte ihr, was ein Gedicht ist. Natürlich musste ich ihr dann eines schreiben – und zwar eins über ihre Lieblingstiere. Sie leben im Wasser und haben sehr lange Zähne – Walrosse. In diesem Gedicht erlaubte ich mir, was ich mir bis dato eben nicht erlaubte: hemmungslos zu reimen. Ich schrieb gleich ein Krokodilgedicht hintendrein: Reim dich oder ich fress dich, egal, juchu: vogelfrei sein – gibt es nicht diesen einen Vogel, der dem Krokodil in den Zähnen sitzt?
Jedenfalls mache ich heute mit meinen Gedichten, die auch für Kinder geeignet sind, gut 50 Schullesungen pro Jahr und stelle fest, dass Kinder Gedichte lieben! Ich kann es nicht anders sagen: Das Gefühl zu vermitteln, dass Sprache an sich schon Freude bereiten kann, ist wunderbar. En passant zeigen die Gedichte den Schülerinnen und Schülern, dass Sprache zu mehr taugt, als bloß zu funktionieren, Vergleiche und Bewertungen vorzunehmen und unkreative (Schul)Systeme aufrecht zu erhalten. Meine Hoffnung ist, dass die Kinder nach der Lesung aus der Schule gehen und Gedichte eben nicht als furchtbar empfinden, sondern als denkwürdig und ruhig auch spaßig erleben.
Mir ist klar geworden, dass man etwas dafür tun muss, damit eine neue Generation von Gedichteliebhabern heranwächst. Vielleicht bleibt der eine oder die andere ja an Gedichten kleben, beginnt selbst zu schreiben (diese Rückmeldung bekomme ich oft) und sitzt in 30 Jahren auf einem Verlagsposten. Gedichte? Aber bitte gern! Möge der Bauch unseres Elfenbeintürmchens ruhig etwas dicker werden!
Einen weiteren Kreuzzug führe ich für den Erhalt der klassischen Wasserglaslesung. Das überkandidelte Eventgebaren vieler Veranstalter empfinde ich als kontraproduktiv für die Sache. Viel zu anbiedernd. Die einfache Kraft des Wortes im Raum muss genügen, meine Meinung.
Zu guter Letzt befürworte ich die Erweiterung des Poesieraums in den ebenfalls unser Welt des Funktionierens enthobenen Kunstraum. Die Visualisierung von poetischem Text passt wunderbar zum entgrenzten Denken der Künstler. In Künstlerbüchern oder auf Wänden oder mit Lesungen im Rahmen von Ausstellungen kommt man zusammen und befeuert sich gegenseitig. Ein unheimlich fruchtbarer Acker, der nurmehr des Saatguts bedarf. Wir vom Club der Unerschrockenen halten in unserem Elfenbeinturm zusammen. Ob es nun meine Dichterfreunde in Kiel, Hamburg, Berlin, Köln, Stuttgart, München, im wortgeilen Österreich oder in der Schweiz sind. Ob das poetische Institutionen wie die Literaturwerkstatt Berlin, das Lyrikkabinett in München, oder die vielen Literaturhäuser sind, die gute Arbeit machen. Ob es die engagierten Veranstalter für Kinder- und Jugendliteratur sind. Ob es die mutigen Kleinverlage sind, die unerschrocken weiter Gedichtbände publizieren. Ob es Anthologisten (Bitte an Reclam: Nicht immer nur 90% tote Dichter in die Sammelbände holen – nehmt mehr lebende Dichter mit hinein!) oder Kritiker wie Michael Braun sind, die seit vielen Jahren ein Auge auf die lyrische Entwicklung haben. Ob es die wenigen furchtlosen Zuhörer und Leser sind, denen es noch etwas bedeutet, wenn der Dichter seinen Gedichtband mit einer Signatur versieht - - Es gibt uns und ich für meinen Teil kann sagen: Ich lebe für die Poesie.
Neulich wurde ich gefragt „Wie würden Sie den Satz beenden? Poesie ist …“ So: … der weltweite und zeitübergreifende Code der Feinsinnigen. Poesie ermöglicht, etwas von dem zu erkennen, was all die Abgestumpften nicht mehr wahrnehmen können. Poesie erschafft Fragen. Poesie schärft die Sinne für unsere Zukunft – und ist daher unverzichtbar.
In: FAZ vom 9. März 2015